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Catherine

Die Geschichte eines jungen Mädchens, das an Anorexia Nervosa (Magersucht) starb.

Als Catherine starb, war sie 22 Jahre alt - eine intelligente, gläubige, sensible junge Frau, die ihren siebenjährigen Kampf gegen Anorexia Nervosa verloren hatte. Dieser bericht, den ihre Mutter aufgeschrieben hat, ist zusammen mit den Tagebuchaufzeichnungen Catherines mehr als eine Krankheitsgeschichte. Er zeigt, dass die oft fälschlicherweise als Magersucht bezeichnete Krankheit sehr tiefe und komplexe Ursachen hat.

Das Buch ist in der Hoffnung geschrieben worden, dass es anderen Eltern, die sich ähnlichen Problemen gegenübersehen, eine Hilfe sein möge ...

Es wurde in England von der BBC verfilmt und als mehrteilige Fernsehserie ausgestrahlt.

Kapitel 1                                    Kapitel 6

Kapitel 2                                    Kapitel 7

Kapitel 3                                    Kapitel 8

Kapitel 4                                    Die Geschichte des Vaters - John Dunbar

Kapitel 5                                    Nachwort - Simon Dunbar

Kapitel 1

Meine Tochter Catherine Anna Marie starb am 2. Januar 1984 im Alter von zweiundzwanzig Jahren an Anorexia Nervosa (Magersucht).

Sie war ein intelligentes, sensibles und hübsches Mädchen, aber sie wollte nur eines: sterben.

Im Nachhinein glaube ich, dass Catherine dachte, dass ich ihre Magersucht, oder - um es anders auszudrücken - ihre Absage an den Lebenswillen, akzeptierte. Ich konnte es nie. Ich verstand, verstand sehr gut sogar, dass ihre Magersucht sie und nicht sie sich selbst in der Hand hatte. Immer wieder habe ich versucht, dies der Familie und den Freunden klarzumachen. Meine eigenen, innersten Gefühle über Catherines Krankheit auszusprechen, vermag ich nicht. Der alles beherrschende Gedanke in meinem Kopf war immer, ihr Lebenswillen einzuflößen. Ich habe versagt.

Jener unausgesprochene Konflikt zwischen Catherine und mir war für mich jederzeit gegenwärtig - der Konflikt zwischen ihrem Wunsch, zu sterben, und meinem Wunsch, dass sie leben sollte. Heute frage ich mich, ob sie diese Spannung nicht auch gespürt hat. In mir hat dies immer wieder alle Schmerzen aufgewühlt, die ich nicht zeigen durfte. Und trotzdem, ganz zum Schluss war mir nur noch wichtig, dass Catherine glücklich war, ganz gleich, ob sie lebte oder starb. Ich bin mir ganz sicher, dass sie dieses Glücksgefühl in den letzten Wochen ihres Lebens sehr intensiv empfunden hat und in jenen letzten, wertvollen Tagen das absolute Glück erfuhr. Sie fragte nicht länger: Wann werde ich sterben, wann wird Gott mich zu sich nehmen?" Ich bin überzeugt davon, dass sie die letzten Tage vor ihrem Tod ganz in der Gegenwart lebte und sich nicht länger nach dem Tod sehnte.

Catherine hatte von frühester Kindheit an einen tiefen Glauben und konnte daher zumindest die Bedeutung des Friedens in Jesus Christus erfassen. Sie konnte begreifen, dass seine hebenden Arme sie jederzeit und überall - auch in jenem Augenblick - hielten. Sie fragte nicht mehr: "Wann wird Gott mich zu sich nehmen?", weil sie instinktiv wusste, dass ihr Himmelreich bereits begonnen hatte. Marie, eine gute Freundin und ehemalige Lehrerin Catherines, schrieb ihr: "Vergiß nicht, dass die Ewigkeit näher ist als Vergangenheit oder Zukunft. Wenn wir die Gegenwart leben, können wir fast die Ewigkeit berühren."

Ich glaube, dass sie die Wahrheit und Wunderbarkeit dieser Worte zu guter Letzt verstanden und erfahren hat.

Sie fehlt mir sehr. Sie fehlt mir als Tochter, sie fehlt mir als Schwester für Simon, Richard und Anna, sie fehlt mir für die Kinder, die sie bekommen hätte, meine Enkelkinder, sie fehlt mir als ein Mensch, der so viel hätte tun und geben können.

Ich hoffe, dass ich ihr oft genug gezeigt und gesagt habe, wie sehr ich sie liebe. Ich weiß, dass sie meine gelegentliche Verwirrung und meine Ungeduld verstanden und verziehen hat. Manchmal war meine Müdigkeit einfach so groß, dass ich nichts mehr von ihrer Krankheit wissen wollte.

Erst wenn wir einen Menschen verlieren, wissen wir, wie sehr wir ihn geliebt haben.

Ich hoffe, dass ich aus meiner Erfahrung mit Catherine, meiner Liebe zu und meinem Leiden mit ihr, ein besserer Mensch geworden bin. Ich danke Gott für meinen Glauben, da ich ohne ihn nicht die Kraft und das Durchhaltevermögen gehabt hätte, um mit der Situation fertig zu werden.

Nachdem Catherine gestorben war, wollte auch ich nicht mehr leben. Mehrere Tage lang trug ich den Gedanken, sterben zu wollen, mit mir herum. Er gab mir Ruhe und manchmal ein großes Glücksgefühl. Aber trotz meiner überwältigenden Gefühle von Schmerz und Einsamkeit - und unendlicher Traurigkeit - wurde mir klar, dass ich viel zu tun hatte, dass es vieles gab, wofür ich leben musste, dass mein Leben für mich weiterging.

Catherine und ich sind gemeinsam durch viele Schmerzen und viel Leid gegangen, aber wir haben uns auch zusammen an vielen schönen Dingen erfreut.

Ich hatte immer gehofft, dass Catherine ihre Magersucht überwinden und durch ihre Erfahrungen anderen würde helfen können, aber sie saß in einer Falle, einer Falle aus großem Schmerz und Desillusionierung. Sie litt auch an der Intoleranz und dem fehlenden Verständnis ihrer Mitmenschen. Ich hoffe, dass dieses Buch dazu beitragen wird, bei den Familien und Freunden von an Magersucht erkrankten Menschen Mitgefühl, Liebe und Unterstützung zu wecken.

Kapitel 2

An einem ganz gewöhnlichen Wochentag im Januar 1977 rief mich die Direktorin von Catherines Internat an, um mir zu sagen, dass sie sich Sorgen mache, weil Catherine überhaupt nichts zu essen scheine. Ich dachte mir, dass sie vermutlich das Schulessen ausließ, dafür aber von den Sachen aß, die ich ihr von zu Hause mitgegeben hatte. Am darauf folgenden Samstag rief die Direktorin wieder an und sagte, dass sie jemanden damit beauftragen würde, Catherine und Anna zum Bahnhof zu bringen, weil sie sich wirklich ernsthaft Sorgen um Catherine mache. Ich holte sie wie immer vom Viktoria‑-Bahnhof ab. Das Schockgefühl, das ich empfand, als ich Catherine sah, ist heute noch so lebendig in mir wie damals. Sie war blass, mager und hohläugig und konnte nur sehr langsam gehen. Wir fuhren vom Bahnhof mit dem Taxi nach Hause. Als wir ankamen, stand mein Sohn Simon mit einem Schulfreund im Eingang; einen Moment lang erkannte er Catherine nicht wieder; er dachte, es müsse sich um eine ihrer Freundinnen handeln. Es hätte eigentlich ein schöner Tag werden sollen, da Simon an diesem Vormittag erfahren hatte, dass er für den kommenden Oktober einen Studienplatz an der Medizinischen Fakultät seiner Wahl bekommen hatte.

Catherine war damals fünfzehn Jahre alt. Mir dämmerte bereits, dass mit ihr ernsthaft etwas nicht stimmte. Sie war immer schwierig gewesen, wenn es ums Essen ging. Das Problem begann vermutlich, als ich beschloss, sie ab der achten Lebenswoche mit der Flasche zu stillen. Simon war zweieinhalb und Richard sechzehn Monate alt, als Cathe­ rine geboren wurde. Es war anstrengend und ermüdend, sich um drei so kleine Kinder zu kümmern, so dass es nicht weiter erstaunlich war, als meine Milch immer wenigerwurde. Für eine Weile schien das Flaschen­füttern zur Katastrophe zu werden. Nichts bekam Kate ("Kate" war für Simon und Richard leichter auszusprechen). Ich probierte es mit jeder erhältlichen Marke von Babynahrung; ich versuchte es mit verdünnter Kuhmilch; niemand riet mir, es mit Ziegenmilch zu probieren ‑- und von selbst kam ich nicht darauf. Ihr Darm schwoll an und wurde hart; sie hatte oft Blähungen und offensichtlich auch Schmerzen. Wenn sie an diesen Bauchschmerzen litt, konnte ich dem nur abhelfen, indem ich sie auf den Bauch auf meine Knie legte und ihr sanft über den Rücken strich. Schließlich suchte unser Hausarzt Rat bei einem Kinderarzt. Dieser schlug vor, die Milch ganz wegzulassen und ihr stattdessen Ribena und mit Wasser vermischtes Farex zu geben. Sie mochte das. Er sagte mir, dass sie, falls sie gegen Milch allergisch sein sollte, diese niemals vertragen würde. Aber als sie etwa zwei Jahre alt war, bemerkte ich, dass sie vom Eis ihres Bruders ohne allergische Anzeichen naschte, so dass ich ihr von da an wieder langsam Milch zu geben begann. Milchpuddings mochte sie besonders.

Trotzdem war sie problematisch, wenn es ums Essen ging. Wäh­rend Simon und Richard - und später auch ihre Schwester Anna - fast alles und jedes mit gleicher Begeisterung aßen, war Catherine extrem wählerisch. Sie weigerte sich, Fleisch, Fisch, Eier und Gemüse zu essen. Überjahre hinweg bestand ihre Ernährung aus Brot, Butter, Erdnussbutter, Milchpuddings, ein bisschen Käse, Joghurt, Obst und gelegentlich ein Würstchen oder eine Scheibe Schinken. Und da ich mich daran erinnerte, wie sehr ich selbst als Kind darunter gelitten hatte, Dinge essen zu müssen, die ich nicht mochte, habe ich Kate nie zu etwas gezwungen. Sie war sehr gesund, also bekam sie offensichtlich alle wichtigen Nährstoffe. Abgesehen von den üblichen Kinderkrankheiten war sie niemals krank und bekam nur selten eine Erkältung. Mein Ehemann John hatte allerdings eine andere Einstellung. Er glaubte, dass Kinder das essen sollten, was auf den Tisch kam, und er machte bei Kate keine Ausnahme. Die Mahlzeiten am Wochenende wurden also zu einem Problem für sie und ich nahm ihr regelmäßig den Teller weg, wenn er nicht hinsah. Ich erinnere mich daran, dass Kate einmal für ein paar Tage bei meiner Schwester Elena und ihrer Familie blieb. Kate war damals gerade drei Jahre alt. Elena war am Ende ihrer Weisheit, weil Kate einfach überhaupt nichts aß. Eines Morgens zeigte Kate beim Einkaufen auf ein paar Wurstbrötchen. Elena ging in den Laden und kaufte ein halbes Dutzend. Als sie nach Hause kam, gab sie Kate ein Wurstbrötchen und war mehr als erleichtert, dass Katenun endlich etwas essen würde. Das tat sie auch - aber erst nachdem sie sorgfältig jedes bisschen Wurst heruntergekratzt hatte!

Etwa zu diesem Zeitpunkt begann ich mir um Kates Sprache Sorgen zu machen. Sie redete sehr undeutlich, und nur ihr engster Familienkreis verstand sie. Ihre Brüder dagegen hatten früh gelernt, deutlich zu sprechen, und verfügten bereits mit zweieinhalb Jahren über ein recht vielfältiges Vokabular. Kate schien in dieser Beziehung noch mit dreieinhalb weiter zurück zu sein. Sie war auch nervös im Umgang mit Menschen und antwortete nur selten, wenn sie angesprochen wurde. Anna, unsere Jüngste, war gerade sechs Monate alt. Bei einem Routinebesuch beim Arzt wegen Annas Impfung erwähnte ich Kates Sprachschwierigkeiten. Ich verglich sie ständig mit ihren Brüdern und meinte, dass es vermutlich mit den Atemwegen zu tun hätte. Ich wusste sehr gut, dass ich meine Kinder nicht miteinander vergleichen sollte, dass jedes Kind ein Individuum ist, das sich in seiner oder ihrer eigenen Zeit entwickelt, aber ich vermutete, dass in Kates Fall etwas die normale Sprachentwicklung behindern könnte. Ich erinnere mich deutlich an eine Begebenheit, die sich einige Wochen nach unserem Besuch beim Arzt ereignete. Kate, die gerne im Haushalt herumwirtschaftete, "half“ mir, die Betten zu machen. Sie fragte mich etwas (ich weiß nicht mehr, was es war). Ich antwortete. Sie stellte dieselbe Frage drei‑- oder viermal. Ich antwortete immer das gleiche und wurde immer ungeduldiger. Ich unterbrach meine Arbeit und fragte ärgerlich: "Kate, warum fragst du mich immer dasselbe? Ich habe dir die Antwort doch schon gegeben." Als ich das sagte, dämmerte es mir, dass Kate taub sein könnte; vielleicht konnte sie mich nur verstehen, wenn sie meine Lippen sehen konnte. In diesem Moment wurde alles klar - während ich das Bett machte, hatte ich meinen Kopf unten, und sie konnte unmöglich die Bewegung meiner Lippen sehen. Wenn ich ihr Geschichten vorlas, setzte sie sich auf meinen Schoß und legte immer ihre Hand unter mein Kinn; jetzt wurde mir klar, warum - damit sie von den Lippen lesen konnte. Innerhalb einer Woche hatte ich einen Termin bei einem Ohrenarzt, der mir bestätigte, dass Catherine schwerhörig sei. Nach einer weiteren Woche gingen wir zur Beratung ins Kreiskrankenhaus. Der Arzt machte noch einige weitere Untersuchungen und sagte mir dann, er sei erstaunt, dass Catherine trotz ihrer Behinderung so viel verstehen würde. Der Verlust ihres Gehörs war eine Folge vergrößerter Drüsen. Mit vier Jahren durfte sie ins Krankenhaus, und jene Drüsen wurden entfernt. Aus diesem Anlass kaufte ich ihr einen schönen neuen Morgenmantel und wusch die alte Wolldecke, die sie immer bei sich haben wollte. (Sie nannte sie ihre "Nacht-Nacht".) Sie rieb das obere Ende, das immer noch in, wenn auch verschlissenes, Satin eingefasst war, vor dem Schlafengehen an ihren Lippen. Alles ging gut, bis ich gehen musste. Sie hängte sich an mich und schluchzte und schrie. Mir rannen ebenfalls die Tränen das Gesicht hinab - ich konnte es nicht ertragen, sie allein zurückzulassen. Es gab keine Möglichkeit für die Mütter der Kinder, bei den kleinen Patienten zu bleiben, und Besuche waren strikt auf die dafür vorgesehenen Zeiten begrenzt. Erst als ich ihr versicherte, dass ich oben im Warteraum für Mütter bleiben würde, ließ sie mich gehen. Am nächsten Tag rief ich an und fragte, wie es ihr nach der Operation ginge. Man sagte mir, dass es besser sei, wenn ich sie nicht vor dem nächsten Tag besuchte. Da ich wusste, dass sie sich Sorgen machen würde, wenn sie aus der Narkose aufwachte und ich nicht da wäre, ging ich trotzdem ins Krankenhaus. Aber die verantwortliche Schwester weigerte sich, mich zu ihr zu lassen, und sagte, dass sie friedlich schlafe. Unglücklich fuhr ich nach Hause zurück und tröstete mich mit dem Gedanken, dass die Schwestern es sicher am besten wüssten. Am nächsten Tag erfuhr ich von einer der anderen Mütter, dass Kate sich die Seele aus dem Leib geweint habe. Das "Nacht-Nacht" durfte sie auch nicht behalten, obwohl sie der Schwester gesagt hatte, dass Mutti es extra gewaschen habe! Wie viel lockerer sind da heute die Richtlinien, wenn es um Kinder in Krankenhäusern geht.

Kaum war sie wieder zu Hause, entwickelte sich ihre Sprache schnell und sie gewann zunehmend an Selbstvertrauen. Als sie entdeckte, dass andere Menschen sie hören und verstehen konnten, schwatzte sie ganz glücklich drauflos. Das "anhängliche" nervöse kleine Mädchen wurde zu einer starken Persönlichkeit.

Mit vier Jahren und sieben Monaten ging Kate wie ihre Brüder Simon und Richard in die kirchliche Vorschule. Die Direktorin war eine warmherzige und freundliche Frau mit einer großen Liebe für Kinder. Ihr Kollegium - die meisten Lehrer waren schon viele Jahre dort - hatte die gleichen Qualitäten. Die Schule zeichnete sich durch ein wunderbar harmonisches Klima aus, und den Eltern wurde das Gefühl vermittelt, stets willkommen zu sein, so dass Kate den Übergang ins Schulleben spielend schaffte. Sie fühlte sich sehr erwachsen, wenn sie zusammen mit ihren fünf und sechs Jahre alten Brüdern zur Schule ging. Jeden Nachmittag nahm ich sie zusammen mit Anna in den nahe gelegenen Park mit, wo sie eine Stunde auf dem Kinderspielplatz verbrachten ‑- etwas, das sie über alles liebten. Dann ging es zurück zum Kinderfernsehen, Abendessen und ins Bett. Welch glückliche, sorgenfreie Tage waren das! Kate entwickelte sich zu einem selbstbewussten glücklichen kleinen Mädchen und war für ihr Alter sehr reif. Sie liebte es, mir im Haushalt, beim Einkaufen und Aufpassen auf ihre kleine Schwester zu helfen. Anna ‑- von Kathy liebevoll unterrichtet ‑- kannte bereits den Klang der Buchstaben und konnte auch einfache Worte lesen, noch bevor sie zur Schule kam. Sie spielten stundenlang glücklich und zufrieden miteinander.

Wenn ich gelegentlich mit John auf eine Geschäftsreise fuhr, hielt meine Mutter die Stellung. Die Kinder liebten sie und sie die Kinder. Oma hatte nie Schwierigkeiten, irgendetwas zu finden - Kate stand immer bereit, um ihr zu helfen und zu raten. Sie brauchte nie soviel Schlaf wie die anderen und kroch oft zu ihrer Großmutter ins Bett, um "Familiengeheimnisse" und andere spannende Neuigkeiten zu besprechen. Daraus resultierte, dass meine Mutter immer bestens über die letzten Ereignisse in der Familie informiert war ...

Kate zeigte gern ihre Liebe - nicht nur mir gegenüber, sondern auch gegenüber dem engeren Familienkreis. Die Beziehung zu ihrem Vater war eine besondere. Sie liebte ihn, aber selbst als kleines Kind verweigerte sie seine Hilfe. Wenn er zum Beispiel manchmal morgens fragte, ob er sie abends zu Bett bringen dürfe, stimmte sie zwar zu, aber wenn das Schlafengehen nahte, erklärte sie einfach, dass sie ihre Meinung geändert habe. Wenn so etwas passierte, war er sauer und zeigte ihr das auch.

John hielt viel auf Disziplin. Er erwartete, dass seine Kinder Vorbilder für gutes Benehmen waren, insbesondere bei den Mahlzeiten, und dass sie nur redeten, wenn sie angesprochen wurden. Er hat sie niemals unter Druck gesetzt, fleißig zu sein, aber er machte seine Erwartung deutlich, dass sie ihr Bestes geben sollten. Und wenn sie erfolgreich waren, belohnte er sie. Er war von seinem Charakter her ehrgeizig und fleißig. Er glaubte, dass ihm erst Reichtum Sicherheit und Freiheit geben würde. Bei ihm, wie bei vielen Männern, stand die Arbeit an erster Stelle, und wir kamen erst an zweiter. Nach außen hin waren wir die „ideale Familie". Wir waren jung, hatten vier liebenswerte Kin­der, ein gemütliches Zuhause – und John war erfolgreich. Unsere Ehe schien glücklich und stabil zu sein. John hätte dem sicherlich zugestimmt. An der Oberfläche wollte, ich es ja auch glauben, aber tief drin widerstrebte mir seine autoritäre Art, sein Besitzergreifen von mir - ich , konnte nie irgend etwas tun oder irgendwo hingehen, ohne zuvor um seine Erlaubnis zu bitten. Aber nichtsdestotrotz entwickelte ich mich von der schüchternen, eher introvertierten Person, die ich am Anfang unserer Ehe war, zu einem selbstbewussten und offenen Menschen. Mir widerstrebte seine übertriebene Strenge gegenüber den Kindern, obwohl ich ihm nie in ihrer Anwesenheit widersprach. Ich erinnere mich daran, dass er mehr als einmal sagte: "Ich bin der Kopf der Familie. Und deshalb treffe ich auch die Entscheidungen." Trotz alledem konnte er ein sehr fürsorglicher, liebenswerter Ehemann und Vater sein. Aber dennoch fühlte ich mich entspannter, wenn er geschäftlich im Ausland war. Ich glaube, den Kindern erging es ähnlich.

Die Adventszeit und Weihnachten waren immer besonders geschäftig und aufregend für die Kinder. Auch ich genoss diese Zeit sehr, obwohl ich hinterher meist das Gefühl hatte, jeden Moment vor Erschöpfung zusammenzubrechen. Elena, ihr Mann und ihre Töchter besuchten uns zu Weihnachten - und meine Mutter war natürlich auch da. Wenn für die Kinder die Weihnachtsferien begonnen hatten, machten wir meist einen Tagesausflug in die Spielwarenabteilung von Harrods. Kurz vor Weihnachten fuhren wir dann noch ein zweites Mal nach London hinein, um die vielen Lichter und den riesigen Baum am Trafalgar Square zu bewundern. Der Weihnachtstag selbst begann bei uns meist um fünf Uhr früh, wenn die Kinder zu uns ins Zimmer stürzten, um uns zu zeigen, was ihnen der Weihnachtsmann gebracht hatte. Am Vormittag gingen wir dann alle in den Gottesdienst, und die Kinder bestaunten die Krippe, die im Kirchhof aufgebaut worden war. Kate hatte schon von frühester Kindheit an einen tiefen und unbeirrbaren Glauben an Gott, und trotz aller modernen Fallen, die dieses Fest umgeben, hat sie niemals den wahren Sinn von Weihnachten vergessen - die Weihnachtskarten, die sie selbst malte, zeugen davon.

Die Kinder verbrachten den Nachmittag ganz für sich allein und schrieben oder probten ein Krippenspiel, das nach dem Abendessen für die Erwachsenen aufgeführt werden sollte. Einmal wurden wir durch ein von Richard geschriebenes Rock-Musical unterhalten, ein anderes Mal entschieden sie sich für eine moderne Aufbereitung der Weihnachtsgeschichte; sie spielte nicht vor 2000 Jahren in Bethlehem, sondern Jesus wurde in der heutigen Zeit in einem grauen und verfallenen Hinterhof geboren. Mir waren diese Aufführungen der schönste Teil von Weihnachten, nicht nur wegen des Spaßes, den es ihnen machte, das Stück aufzuführen, sondern auch wegen unseres eigenen Vergnügens.

Für Kate musste Weihnachten einfach großartig sein. Wenn jemand nicht bis zum Äußersten glücklich zu sein schien, kam sie und sagte es mir. Sie vermied es sogar, sich mit ihren Brüdern zu streiten - nichts durfte den Tag verderben.

Kate war in jeder Hinsicht strebsam und ehrgeizig. Sie hatte sehr hohe Ansprüche. Wenn sie sich an Theateraufführungen oder Poesiewettbewerben beteiligte, verpflichtete sie mich dazu, ihren Auftritt verbessern zu helfen. Sie arbeitete ohne Unterlass und glänzte am Tag der Aufführung. Sie liebte die Poesie und fand immer viel Spaß daran. In den letzten Monaten ihrer Krankheit wurde die Poesie zu einem der wenigen Vergnügen in ihrem Leben.

Als Kate älter wurde, gab es eine große Rivalität zwischen ihr und ihrem großen Bruder Simon. Simon und Richard hatten inzwischen von der Vorschule auf die Grundschule gewechselt. Ich erinnere mich daran, dass Simon einmal krank war und zu Hause blieb, und weil ihm nichts Besseres einfiel, beschäftigte er sich mit Kates Kassettenrecorder. Kate schäumte vor Wut, als sie nach Hause kam und hörte, dass ihr Recorder von Simon benutzt wurde! Schlittschuhlaufen fanden sie alle, ob sie nun gut oder schlecht liefen, großartig. Ich selbst konnte es nicht und beschloss daher, meine Füße auf festem Boden zu lassen. Zehn Minuten nachdem sie das Eis zum ersten Mal betreten hatte, fuhr Kate bereits frei in der Mitte der Bahn herum. Als Simon das hörte, bat er mich, ihn ebenfalls mit zum Eislaufen zu nehmen und verkündete, dass er beabsichtige, es in weniger als zehn Minuten zu lernen. Und er schaffte es in acht Minuten, aber ohne die natürliche Begabung, die Kate gezeigt hatte.

Später glänzte sie beim Rollschuhlaufen, bei der Gymnastik, beim Tennis und beim Schwimmen.

Im Herbst 1973 kauften wir ein nur wenige Kilometer von unserem alten Zuhause entferntes und doch etwas weiter außerhalb liegendes neues Haus. John hatte immer ein Haus mit etwas Land herum gesucht. Die Kinder fanden es phantastisch. Das Haus war nichts Besonderes - es war die Umgebung, die uns anzog. Es lag auch ganz in der Nähe der Schule, die Catherine ab dem folgenden Jahr besuchen würde.

Zu dieser Zeit entschied Kate, dass die mit ihrem Taufnamen gerufen werden wollte, Catherine, und mit erstaunlicher Willenskraft und Entschlossenheit weigerte sie sich, auf den Namen Kate noch weiter zu reagieren. Innerhalb weniger Wochen waren wir alle so gut trainiert, dass sie alle von jetzt an als Catherine kannten. Ich erinnere mich noch, wie Simon darauf reagierte: Er erklärte, dass er von jetzt an darauf bestehen würde, "Simeus Maximus Superbus" genannt zu werden!

Die Euphorie über unser neues Heim war nur von kurzer Dauer. Durch den arabisch‑-israelischen Krieg stieg der Ölpreis, es gab einen Bergarbeiterstreik, eine Drei-Tage-Arbeitswoche, eine Wahl - und infolge all dieser Ereignisse fielen die Grundstückspreise in den Keller. Wir saßen auf unseren zwei Häusern, von denen wir keines verkaufen konnten, hatten vier Kinder in Privatschulen und riesige Zinslasten, die bezahlt werden sollten. Ich war dafür, die Kinder auf die staatliche Schule zu schicken, aber John dachte, dass das wie ein Versagen seinerseits aussehen würde. Er hatte diese Schulen für seine Kinder ausgewählt und war fest entschlossen, sie dort zu belassen. Da unser Einkommen aber zu niedrig war, um die Schulgebühren und die Bankzinsen neben unseren Lebenshaltungskosten aufzubringen, mussten wir uns Geld leihen. Nach einem einjährigen Alptraum gelang es uns, das erste Haus, in dem wir bis dahin gelebt hatten, zu verkaufen.

Catherine war inzwischen dreizehn Jahre alt und ging auf ihre neue Schule. Wir hatten das Haus unter Preis verkaufen müssen, so dass wir der Bank immer noch eine beträchtliche Summe schuldeten, aber wir konnten unsere Köpfe über Wasser halten. 1976 schien die Welt vor unseren Augen zusammenzubrechen. John, der für eine europäische Firma arbeitete, wurde gebeten, die Londoner Filiale zu schließen. Die weltweite Rezession hatte begonnen; wir waren am Ende. Wir verkauften zum zweiten Mal unser Heim. Im Dezember 1976 zogen wir nach London.

In den letzten zwei Jahren hatten sich die Folgen des Stresses bei John bemerkbar gemacht; er musste jetzt seine Mitarbeiter entlassen und ihren Problemen zuhören, und keiner ahnte jemals seine eigenen großen Schwierigkeiten. Er war immer dominant und launisch gewesen, aber jetzt war er aggressiver geworden, und obwohl er uns niemals wehtat, war sein Verhalten manchmal doch beängstigend. Simon und Richard waren im Internat und entgingen so dem Ärgsten, außerdem hatte John sich meist besser unter Kontrolle, wenn sie da waren. Anna, als jüngste, war meist längst im Bett und schlief, wenn er aus dem Büro nach Hause kam. Catherine war diejenige, die alles mitbekam und am meisten darunter litt.

Im Sommer 1976 bat Catherine ihren Vater, in das Internat der Schule ziehen zu dürfen. Sie fühlte sich dort sehr wohl und meinte, viel zu verpassen, weil sie externe Schülerin war. Trotz unserer finanziellen Situation stimmte er zu. Normalerweise hasste Catherine es, auch nur für eine Nacht von zu Hause fort zu sein, aber sie lebte sich schnell ein, und die verbleibenden Wochen dieses Halbjahres waren sehr glücklich für sie. Ihre Schulleistungen wurden ebenfalls wesentlich besser; während sie vorher hart arbeiten musste, um relativ gut zu sein, schien sie nun leichter zu lernen und schneller zu begreifen.

Als sie in den Sommerferien nach Hause kam, freute sie sich schon auf das folgende Schuljahr, in dem Anna ihr ebenfalls ins Internat folgen sollte. Wir hatten uns trotz unseres immer größer werdenden finanziellen Drucks zu diesem Schritt entschlossen. Wir hofften, dass ihnen das - bei der Aussicht auf einen weiteren Umzug - größere Stabilität und Sicherheit vermitteln würde.

Catherine hasste den Gedanken an einen neuen Umzug – und natürlich auch die Leute, die kamen, um unser Haus zu besichtigen. Auch dass wir uns von unseren geliebten Haustieren trennen mussten, lastete schwer auf ihr. (Wir hatten einen Golden Retriever namens Cäsar und eine kleine Katze, Jasper. Glücklicherweise verkauften wir das Haus an eine wunderbare Familie, die fragte, ob wir ihnen Cäsar und Jasper überlassen würden. Wir stimmten begeistert zu, denn das bedeutete, dass die beiden ihr freies und glückliches Leben draußen weiterführen konnten. Wir vereinbarten, Cäsar bei gelegentlichen Ausflügen nach London "auszuleihen".)

Etwa zwei oder drei Wochen bevor Catherine wieder in die Schule zurückkehren sollte, diesmal mit Anna im Schlepptau, bekam sie ernsthafte Verdauungsprobleme. Die Hauptsymptome waren Blähungen und ein harter, leicht geschwollener Blinddarm, genauso wie damals, als sie noch ein kleines Baby war. Sofort strichen wir alle Milch und Milchprodukte aus ihrer Ernährung, aber das half überhaupt nichts. Der Arzt gab ihr verschiedene Arzneimittel, die alle nichts nützten. Nach etwa sechs Wochen schlug er vor, dass sie einen Barium-Sulfat-Test machen sollte, um festzustellen, ob sie irgendeine organische Krankheit hatte. Das Barium-Sulfat brauchte nur eineinhalb Stunden, um den Körper einschließlich des Darms zu durchlaufen - es hätte mindestens zwölf oder dreizehn Stunden brauchen sollen. Ich ging dann mit Catherine zu einem bekannten Kinderarzt, der mir erklärte, dass Catherine zwar in einem sehr beängstigenden Zustand sei, aber dass sie, wenn wir erst einmal umgezogen und wieder zur Ruhe gekommen seien, wieder in Ordnung kommen würde. Er schlug vor, eine Diät zu versuchen, die viele Ballaststoffe enthielt und ihre Verdauung verlangsamen würde.

Anna war glücklich in ihrer neuen Schule, aber Catherine wirkte, auch wenn sie im Unterricht immer noch sehr gut abschnitt, blass und müde und in sich selbst gekehrt. Anfang Dezember 1976 zogen wir in eine kleine Wohnung in London.

Kapitel 3

Wir hatten alle das Gefühl, von vorn anfangen zu können. Die Wohnung war klein und der Raum begrenzt, aber wir wussten, dass uns das Wohnen in der Stadt dafür entschädigen würde, denn es gab viel zu sehen und zu tun.

Wir hatten unsere Schulden bei der Bank vollständig zurückbezahlt und sogar noch ein wenig Geld übrig behalten. Wir alle atmeten erleichtert auf - das Schlimmste lag hinter uns, so glaubten wir zumindest.

Weihnachten verbrachten wir in diesem Jahr zum ersten Mal im Haus meiner Schwester Elena und ihrer Familie. Wir folgten der alten Familientradition mit einem Festessen bei Kerzenschein und der Aufführung des Krippenspiels durch die Kinder hinterher. Es war ein wundervoller Tag, und noch schöner wurde er durch Johns ‑- wenn auch nur flüchtige - entspannte und fröhliche Stimmung. Wir hatten ihn seit mindestens drei Jahren nicht mehr so erlebt. Catherine kam immer wieder zu mir und sagte: Ist das nicht wundervoll,  Mutti? Vati geht es besser." Ich glaubte es auch und hoffte und betete, dass Catherine jetzt all ihre Ängste überwunden hätte. Nach Weihnachten fuhren wir für eine Woche zum Skifahren nach Italien; insgesamt gesehen war es eine schöne Reise. Simon, Richard, Catherine und Anna lernten das Skifahren rasch und genossen die neue Erfahrung ausgiebigst. Catherine schien sich jedoch die meiste Zeit von uns abzusondern, insbesondere nach den Mahlzeiten, wenn sich John über ihre "Show" beim Essen aufgeregt hatte. Nach unserer Rückkehr führte er uns ein paar Mal zum Essen aus, aber das Ganze wurde jedes Mal durch seine Ungeduld Catherine gegenüber verdorben - sie aß bei diesen Gelegenheiten fast gar nichts. John war gedrückt und irritiert, und seine Stimmung schien sich ständig zu verschlimmern. Aus diesen Gründen war ich froh, als die Kinder wieder zur Schule mussten.

Normalerweise kamen Anna und Catherine am Wochenende nach Hause. Die ersten drei Mal in diesem Schulhalbjahr holte ich sie am Bahnhof ab, und wir fuhren mit dem Bus nach Hause. John war oft sehr depressiv und völlig verzweifelt. Er kämpfte für das, was ihm wichtig war, aber er kämpfte auch gegen die Menschen, die ihm am liebsten waren. Er hatte das Gefühl, dass nichts wirklich sicher war, dass er nichts und niemandem wirklich trauen konnte. Wenn sich seine Laune besserte, war er jedoch sehr lieb zu uns. Dann bestand er jedes Mal darauf, uns auszuführen - ein ewiges Trauma für Catherine.

Ich glaube, dass Catherine und Anna damals gewollt hätten, dass ich ihren Vater verlasse, aber ich konnte es nicht. Ich glaubte fest daran, dass irgendwann alles gut werden würde. Er betonte immer wieder, dass ich die einzige war, die ihm helfen konnte. Damals besuchte uns eine sehr gute Freundin, Catherines Patentante, mit der ich zusammen aufgewachsen war. Sie war tief erschrocken, als sie unseren Zustand bemerkte. Nicht nur Catherines Krankheit - sondern auch, was aus unserer Ehe geworden war. Sie versuchte, John und mich davon zu überzeugen, dass wir uns um Catherines willen versuchsweise trennen sollten. Wir waren anderer Meinung. Ich verstand John nur zu gut, er fühlte sich als vollständiger Versager: seine Ambitionen waren am Boden zerstört, und er hatte keinen sicheren Arbeitsplatz. Er dachte, die ganze Welt hätte sich gegen ihn verbündet und es sei unsere Pflicht, ihm seine Qual erträglich zu machen und zugleich mit ihm zu leiden. Es war sinnlos, mit ihm zu diskutieren. Es führte jedes Mal wieder zu einem Wutausbruch seinerseits. Und gerade das versuchte ich mit allen Mitteln zu bekämpfen. Ich hatte Angst vor ihm, aber schon der Kinder wegen versuchte ich, das Familienleben so normal wie möglich zu gestalten. Ich erklärte ihnen: "Vati wird es besser gehen, wenn er erst einmal wieder eine feste Arbeit hat."

Im Büro stellte er die höchsten Ansprüche und konnte gut mit Menschen umgehen, aber was mit Catherine geschah, erkannte er nicht.

Zu diesem Zeitpunkt rief mich die Direktorin an und berichtete mir von Catherines mangelndem Appetit. Zu meinem Entsetzen sagte mir Catherine bei ihrer Ankunft, dass sie seit einer Woche, genau genommen seit dem letzten dramatischen Wochenende, nichts gegessen oder getrunken hatte. Ich redete mit ihr, schmuste mit ihr, versuchte sie zu überreden, wenigstens ein bisschen zu essen. Sie erklärte, sie habe Angst vorm Schlucken, ja, sie könne überhaupt nicht schlucken. Ich rief den Kinderarzt an. Er sagte mir, die Sache sei jetzt akut geworden und ich sollte dafür sorgen, dass Catherine sich ausruhte und wenigstens etwas trank. Er würde in der Zwischenzeit einen Termin bei einem Spezialisten vereinbaren. Am Morgen des 11. Februar 1977 ging ich mit Catherine zu einem Psychiater, einem Professor, der in einem Londoner Krankenhaus praktizierte. John erklärte, dass er mitkommen würde, aber obwohl er darauf bestand, wollte ich unter allen Umständen, dass Catherine den Psychiater alleine sprach, damit sie freier und offener über ihre Ängste und Gefühle reden konnte. Der Arzt würde so ein deutlicheres Bild aller Umstände bekommen und besser helfen können. Catherine wollte unter keinen Umständen, dass ihr Vater mitkam. Wir verließen schnell die Wohnung und fuhren mit einem Taxi zum Krankenhaus. Bei unserer Ankunft erklärte ich dem Portier, dass es für meine Tochter von größter Bedeutung sei, den Professor alleine zu sehen, und bat ihn, meinen Mann am Eingang festzuhalten, falls er nach uns fragen sollte. Das Wartezimmer war weiter hinten im Gang, so dass wir uns dort aufhalten konnten, ohne dass John wusste, wo wir waren. Tief drinnen glaubte ich, dass John sich auf eine bestimmte Art und Weise bedroht fühlte und nicht wollte, dass Catherine frei über ihre Sichtweise unserer familiären Probleme sprach. Der Professor und Catherine waren ungefähr eine Stunde allein im Gespräch. Sie sagte mir später, dass sie ihm alles erzählt hatte. Er sprach dann auch mit mir, und ich konnte ihm dabei ein grobes Bild von Catherines Kindheit, ihrem Problem mit dem Essen und der Situation zu Hause in den letzten drei Jahren vermitteln. Ich sagte ihm auch, dass John vermutlich am Empfang saß. Er rief dort an und bat John, dazuzukommen. Er unterhielt sich dann mit uns allen zusammen und erklärte in seinem Fazit, dass Catherines Unfähigkeit zu essen eine Form des Protestes sei. Da sie mit dem Essen sowieso immer schon Schwierigkeiten hatte, war dies für sie die einfachste Art des Protestes. Er fügte hinzu, dass er sie, falls sie auch in den nächsten Tagen nichts essen würde, ins Krankenhaus einweisen müsste. Wir verabredeten, dass ich ihn am darauf folgenden Dienstag anrufen sollte.

Auf dem Heimweg beschlossen wir, dass ich mit Catherine für zwei oder drei Tage wegfahren sollte. Als ich darüber nachdachte, bemerkte ich, dass ich versucht hatte, die Situation so gut wie möglich zu überspielen und alles "normal" erscheinen zu lassen, was mir jedoch keineswegs gelungen war. Catherine gefiel die Idee, zwei Tage nur mit mir zu verbringen. Sie schlug vor, dass wir uns eine Unterkunft auf dem Land, nicht allzu weit von London entfernt, suchen sollten. Am folgenden Morgen zogen wir los, und um die Mittagszeit hatten wir ein zauberhaftes, altmodisches, verträumtes Hotel gefunden. Da es draußen eisig kalt war, saßen wir den ganzen Nachmittag am knisternden Kaminfeuer und redeten. Das einzige Thema, das wir nicht anschnitten, war das Essen - ich hatte beschlossen, es zunächst zu meiden. Ich bestellte mir jedoch Tee und belegte Brote in der Hoffnung, dass Catherine sie mit mir teilen würde. Sie aß nichts. Später gingen wir ins Restaurant zum Abendessen, aber sie weigerte sich immer noch, etwas zu sich zu nehmen. Ich zwang sie nicht. Diese Nacht schlief Catherine bei mir, da das einzige freie Zimmer ein Doppelbett hatte. Ich wurde am frühen Morgen durch ihr Schluchzen wach. Ich nahm sie in meine Arme und wiegte sie wie ein Baby; nach einiger Zeit hörte ihr Schluchzen auf und wir begannen wieder, miteinander zu reden. Dieses Mal erzählte sie mir von all ihren Ängsten: ihre Besorgnis, wenn ihr Vater seiner Wut oder Frustration Ausdruck verlieh, ihre Traurigkeit, weil er ihre Depression und ihre Unfähigkeit zu essen nicht verstand, und ihr Bangen um die Frage, ob er wieder eine Arbeit finden würde. Ich sagte ihr, dass ich die gleichen Ängste wie sie hatte und dass wir von da an gemeinsam versuchen sollten, mit der Situation fertig zu werden. Ich versicherte ihr, dass er sie und mich, Simon, Richard und Anna trotz allem innigst liebte. Ich erklärte ihr, dass sie, wenn sie mit der Situation fertig werden wollte, dafür all ihre Kräfte brauchen würde, und schlug vor, dass sie sich dazu durchringen sollte, ab dem Frühstück am Montagmorgen wieder etwas zu essen. Sie gab mir weder eine positive noch eine negative Antwort, und bald schliefen wir beide ein. Am nächsten Tag sagte sie mir, dass sie versuchen wolle, am Montag etwas zum Frühstück zu essen. Aber in der folgenden Nacht konnte sie nicht schlafen, weil sie die ganze Zeit daran denken musste und ein Gefühl von Panik verspürte. Ich beruhigte sie, und schließlich schlief sie ein. Der Montagmorgen begann. Ich bestellte mir wie üblich einen Kaffee und Toast und hielt die Luft an, als der Kellner Catherine nach ihren Wünschen fragte. Zu meinem Erstaunen und größter Erleichterung bestellte sie Toast, Honig und eine heiße Schokolade. Ich sagte nichts. Innerlich war ich aufgewühlt, aber nach außen hin war ich ruhig. Ich fragte sie, was sie den Tag über machen wolle. Ich war darauf vorbereitet, so lange von zu Hause fortzubleiben, bis sie sich wieder ans Essen gewöhnt hatte, aber sie erklärte, dass sie nach Hause zurückfahren wolle. Auf der Rückfahrt aßen wir in Windsor zu Mittag; sie war entspannt und schien sich zu amüsieren. Sie war körperlich immer noch geschwächt, so dass ein Stadtrundgang außer Frage stand. Als wir uns unserem Zuhause näherten, wurde sie wesentlich stiller und erklärte, dass sie nicht wolle, dass ihr Vater sie essen sähe.

Ich versprach, dass ich es ihm erklären würde. Er bestand jedoch darauf, dass Catherine mit uns aß; mir selbst war es gleich, ob Catherine. die Mahlzeiten allein zu sich nahm, solange sie nur aß. Da John aber so sehr darauf bestand, schickte ich Catherine zu meiner Mutter an die Ostküste von Kent. Catherine liebte ihre Großmutter über alles und hatte viele glückliche Ferien dort verbracht; aber nach knapp drei Tagen rief meine Mutter an und sagte mir, dass Catherine wieder nichts essen würde. Ich hatte inzwischen den Professor in der Klinik angerufen und ihm mitgeteilt, dass Catherine meiner Meinung nach bald wieder in Ordnung sein würde. Jetzt musste ich ihn also wieder anrufen und erklären, dass Catherine rückfällig geworden war.

Ende Februar wurde Catherine ins Krankenhaus eingeliefert. Obwohl sie traurig und niedergeschmettert war, ging alles gut - bis eine Schwester ihr sagte: "Bei den Mahlzeiten wirst du mit kleinen Portionen anfangen, und später werden sie dann immer größer ..." Catherine flehte mich an, sie doch wieder mit nach Hause zu nehmen. Langsam wurde ihr Flehen zum Schreien. Sie geriet in Panik; ihre Schreie wurden lauter und hysterisch. Sie klammerte sich mit soviel Kraft an mich, dass es mehrerer Schwestern bedurfte, um sie von mir loszureißen. Solange ich lebe, werde ich diese Szene nicht vergessen. Bis zu diesem Tag hatte ich noch nie etwas von Anorexie gehört.

Einige Tage später fragte Catherine einen Krankenpfleger, was dieses Wort, das alle um sie herum gebrauchten, bedeutete. Er fragte erstaunt: Du meinst, du weißt nicht, was mit dir los ist?"

Catherines Normalgewicht wurde mit … Kilo angegeben. Das war auch ihr Ziel-Gewicht während ihres Krankenhausaufenthaltes. Es sollte durch eine auf Belohnung bzw. Bestrafung beruhender Diät erreicht werden. Wann immer ein Patient an Gewicht zunimmt, bekommt er ein Privileg zugestanden. Und je höher das Gewicht steigt, desto mehr Privilegien bekommt er - er darf dann zum Beispiel auf die Toilette gehen, statt die Bettpfanne benutzen zu müssen, darf durch Stationen spazieren gehen, seine eigene Kleidung tragen, Besuch empfangen. Wenn er dagegen an Gewicht verliert, werden ihm Privilegien entzogen. Catherine erreichte ihr Zielgewicht und durfte uns zu Ostern auf einen Spanienurlaub begleiten. Während ihres Krankenhausaufenthaltes hatte sie keine psychotherapeutische Behandlung erhalten. In diesem Frühjahr und Sommer stabilisierte sich ihr Gewicht bei … Kilo. Körperlich war alles in Ordnung, aber seelisch litt sie an fehlendem Selbstvertrauen, Depressionen und Einsamkeit.

Früher war sie in der Schule immer beliebt gewesen und hatte stets enge Freundinnen gehabt; in der Grundschule und auch später in der Oberschule war sie stellvertretende Schülersprecherin gewesen. Jetzt aber lebte sie immer zurückgezogener. je mehr sie das Gefühl hatte, dass ihre Freunde sie nicht verstanden, desto unglücklicher, einsamer und isolierter wurde sie. In den folgenden sieben Jahren war Catherine nie wieder richtig glücklich und unbekümmert.

Als Catherine dieses erste Mal aus dem Krankenhaus entlassen wurde - und mehr noch bei späteren Aufenthalten -, schien es Simon, Richard und Anna, als ob es ihr besser ginge, weil sie wieder ihr Normalgewicht hatte, und bei allen war die Erleichterung darüber zu verspüren. Dennoch empfanden sie ihr Verhalten immer stärker als zurückgezogen und unkommunikativ.

Eines Tages, als Anna in das Zimmer kam, das sie mit Catherine teilte, stand auf dem Spiegel mit Lippenstift geschrieben: "Ich bin hässlich." Anna vermisste ihre Schwester, mit der sie früher so viel Spaß gehabt hatte, sehr. Das häufige Fehlen ihrer Schwester in der Schule war ihr peinlich, und sie bekam mehr und mehr das Gefühl, dass ihre Schwester "anders" sei.

Im September 1977 wurde Catherine wieder externe Schülerin ihrer Schule. Etwa einmal alle zwei Wochen besuchte sie den Professor im Krankenhaus. Ihre Depressionen waren akut. Mit anderen Menschen war sie launisch und schwierig. Es schien so, als ob alles, was sie erlebt hatte, eine Art Anschlag auf ihren Verstand verübte. Sie musste sich zu allem, insbesondere zum Essen, überwinden. Jemand aus meiner Umgebung empfahl mir, sie zu normalen Eßgewohnheiten zu zwingen. Ich entschied wider mein besseres Wissen, es zu versuchen. Ich stellte ihr einen Teller mit Fleisch oder Fisch, Gemüse oder Nudeln vor die Nase und bestand darauf, dass sie es aß. Die daraus resultierenden Szenen waren mehr, als ich verkraften konnte, und als Ergebnis hatte ich für kurze Zeit das Gefühl, ihr Vertrauen verloren zu haben.

Ungefähr zu dieser Zeit erklärte sie, dass sie gerne fließend Französisch sprechen würde, und sie dachte daran, in Frankreich zur Schule zu gehen. Sowohl Catherine als auch ich hatten das Gefühl, dass eine längere Trennung von zu Hause vielleicht hilfreich sein könnte. Über die Schwesternschaft, der die Schule angegliedert war, wurde ihre Übersiedlung in deren Mutterhaus in Amiens arrangiert. Der Professor war nicht hundertprozentig einverstanden, aber ich hatte das Gefühl, dass eine völlige Veränderung der Lebensumstände als eine von Catherine selbst gewählte Herausforderung nur Gutes bringen könnte. John und ich brachten sie im Januar 1978 nach Amiens. Sie lebte sich erstaunlich gut in ihrer neuen Umgebung ein. Sie schien ihr Interesse an allem wieder zu finden, und ihre Fortschritte im Französischen waren hervorragend.

Zum Ende des Halbjahres im März kam sie nach Hause zurück. Ich holte sie vom Bahnhof ab. Sie sah gesund und fröhlich aus - beinahe schön, als sie den Bahnsteig entlang auf mich zulief. Gott sei Dank, dachte ich, sie hat es überwunden. John hatte inzwischen einen sehr guten Job im Ausland angenommen und sollte seinen neuen Posten direkt nach Catherines Halbjahresferien antreten. Alles schien gut zu werden. Aber es wurde schnell deutlich, dass Catherine mich ganz für sich beanspruchte und dass ihr Glücklichsein nur, oberflächlich war. Ich hatte den Eindruck, dass sie die Maske nur mir zuliebe aufgezogen hatte und dass die Depression nur darauf wartete, wieder ihr hässliches Gesicht zeigen zu können. Sie kehrte unter Tränen und Heimweh nach Frankreich zurück. Ich erhielt einige verzweifelte Telefonanrufe von ihr. Sie war niedergeschlagen und krank, und ich traf Vorbereitungen, sie vor Ablauf des Halbjahres nach Hause zurückzuholen.

Aus Catherines Tagebuch: 10. März 1978, Amiens, Frankreich

(Ich möchte … Kilo wiegen, das ist ein großes Problem)

Ich habe die Nase voll und bin niedergeschlagen. Ich würde am liebsten S.b. (Selbstmord begehen). Es ist mein Glauben an Gott, der mich daran hindert, da er mir das Leben geschenkt hat und es der Teufel wäre, der mich dazu brächte, ihm ein Ende zu setzen. Das möchte ich nicht, weil ich nicht dem Teufel, sondern Gott folge.

Ich kann niemandem genau sagen, was ich wirklich fühle, weil sie es nicht verstehen. Ich habe das Gefühl, allen nur eine Last zu sein, und das schon seit einem Jahr. Ich wünschte vor Gott, ich hätte dieses Gefühl nicht. Ich würde alle Reichtümer der Welt darum geben, ein normales, gesundes Mädchen zu sein, aber das scheint für mich jetzt noch nicht möglich zu sein. Ich kann nicht hier in Amiens bleiben ganz gleich, wie sehr ich es liebe -, weil ich wieder niedergeschlagen bin und mich zu unsicher fühle. Ich bin wie besessen wegen meines Gewichts. Ich kann Mutti nicht die ganze Wahrheit sagen, warum ich von hier fort will. Ich kann nur sagen, dass mein Heimweh und meine Verwirrung die Gründe sind.

Ich möchte im November meine Fachhochschulreife machen. Und bitte, lieber Gott, lass mich darin - wenn schon sonst nicht im Leben bestehen. Ich möchte mich nur vor den Menschen, vor dem Leben und der Ungewissheit verstecken. Wie kann ich es nur schaffen? Es ist unmöglich, diese Aufgabe allein zu bewältigen.

Ich habe mir selbst mit drei Überdosen (Abführmittel) in drei Wochen großen Schaden zugefügt. Ich wiege im Moment, Gott sei Dank, … kg und habe die Absicht, so zu bleiben. Ich habe Angst, darüber nachzudenken, welche Kommentare ich mir von den Leuten anhören muss, wenn ich nach Ostern nicht nach Frankreich zurückkehre, aber ich habe beschlossen, dass es sich um mein Leben handelt und dass ich weiß, was ich brauche. Ganz gleich, was sie mir auch sagen werden, ich will mich davon nicht beeindrucken lassen (hoffentlich). Ich werde für meine Fachhochschulreife arbeiten, und danach?

Sie erklärte mir, dass sie es nicht länger fern von zu Hause aushalten könne. Ich sei ihre Kraft, sagte sie. In jenem Frühjahr fuhren wir zusammen für eine Woche weg. Sie schien entspannt und genoss ihre Mahlzeiten. Wieder hatte ich die Hoffnung, dass alles in Ordnung kommen würde. Als sie zurück in London war, sorgte ich dafür, dass sie eine Tagesschule besuchen konnte. Die Fachhochschulreifeprüfung stand kurz bevor, und der Professor ermunterte sie, es zu versuchen. Zu Beginn sollte sie in acht Fächern geprüft werden, aber sie hatte so viel versäumt, dass sie schließlich beschloss, sich nur in Französisch, Spanisch, Englisch und englischer Literatur prüfen zu lassen. Schon kurze Zeit darauf wurde sie jedoch in die Klinik eingeliefert und der gleichen Diät wie vorher unterworfen. Sie legte ihre Prüfungen im November 1978 im Krankenhaus ab und bestand Französisch und Spanisch mit sehr gut und Englisch mit gut. Rückblickend denke ich, dass es für Catherine am schlimmsten war, dass sie keinen Besuch empfangen durfte. Es führte dazu, dass sie sich immer weiter in sich selbst zurückzog. Die Krankenhauswelt wurde zu ihrem "Gebiet", der Ort, an dem sie keine Verantwortung trug, wo jemand anders für ihr Essen zuständig war. Als sie schließlich Besuch empfangen durfte, wollte sie nur mich sehen; andere kosteten sie enorme Anstrengung. Sie konnte es nicht ertragen, dass sie die Veränderungen an ihr sahen. Infolge ihrer drei Mahlzeiten und zwei Zwischenmahlzeiten fühlte sie sich aufgedunsen und hässlich - ihr größtes Ziel war, endlich herauszukommen und zu hungern. Ich denke heute, dass diese Behandlung, die immer noch die am weitesten verbreitete ist, wesentlich langsamer erfolgen sollte. Anstatt das Normalgewicht des Patienten zum "Ziel" zu erklären, sollte zu Beginn lieber ein wesentlich niedrigeres Gewicht angesteuert werden, und zugleich sollte eine intensive psychotherapeutische Behandlung erfolgen. Erst wenn dieses Gewicht dann vom Patienten voll und ganz akzeptiert wird, sollte ein neues "Ziel" gesetzt werden, wiederum nur eine kleine Steigerung, und dann immer weiter, bis der Patient schließlich bereit ist, sein Normalgewicht zu akzeptieren. Ich kann nicht oft genug die Notwendigkeit einer intensiven psychotherapeutischen Betreuung während dieser Behandlung betonen. Sie muss allerdings von einer Person, die das Vertrauen des Patienten genießt und zu der er ein gutes Verhältnis hat, durchgeführt werden. Ich glaube auch, dass Besuche von Anfang an gestattet sein sollten; das würde dem Patienten helfen, sich weniger isoliert zu fühlen und besser mit dem Leben außerhalb der Klinik in Kontakt zu bleiben. Und was am wichtigsten ist: die Familie und Freunde regelmäßig zu sehen, während die Kranken an Gewicht zunehmen, würde auch helfen, das Trauma, das die Magersüchtigen empfinden, zu vermindern. Zu diesem Zeitpunkt war die Magersucht noch relativ unbekannt, und nur wenige Menschen hatten davon gehört. Ich hatte das Gefühl, in einem Meer von Unwissenheit zu schwimmen. Hätte ich nur damals all das gewusst, was ich heute weiß, ich hätte Catherine wesentlich konstruktiver helfen können und den späteren, unwiderruflichen chronischen Zustand der Magersucht verhindern können. Ein Kind so sehr leiden zu sehen und ihm dennoch nicht helfen zu können, hat mich tief getroffen und belastet mich heute noch. Und dass man zugleich Zeuge der Auswirkungen auf die eigene Familie wird, macht es zu einer doppelten Tragödie. Simon, Richard und Anna sorgten sich sehr um ihre Schwester. Sie hatte sich vor ihren Augen von einem glücklichen und strahlenden Kind zu einem zurückgezogenen, mürrischen, niedergeschlagenen, isolierten Mädchen verwandelt. Sie konnten nicht mit ihr kommunizieren, sie konnten sie nicht verstehen. Aber wie sollten sie auch? Niemand versteht das Rätsel der Magersucht.

Der eigentliche Name, Anorexia nervosa, ist irreführend, weil er "nervöser Appetitmangel" bedeutet. Nichts ist weiter entfernt von der Wahrheit. Catherine war auf unglaubliche Weise vom Essen besessen; ihr Körper verlangte ständig danach, aber ihr Kopf verweigerte es. Sie war hin- und hergerissen: ein Teil verlangte danach, zu essen und gesund zu werden, während der andere sie bat, nicht zu essen, ihr ein Gefühl von Schuld und mangelnder Reinheit einflößte, wann immer sie es tat. Sie interessierte sich bis zum Exzess für das Essen und war vom Kochen wie besessen. Sie kochte riesige Mahlzeiten für die Familie und bestand darauf, dass alles aufgegessen wurde, wobei sie nie mit uns aß. Ihr Geschmack war seltsam. Wenn jemand in die Küche kam, während sie aß, brach sie entweder in Panik aus und schrie oder tat geheimnisvoll und behauptete, nicht gegessen zu haben. Ich erkenne heute, dass sie, wann immer sie mit Nahrungsmitteln in Kontakt kam - beim Einkaufen, Kochen oder Essen -, vom Wahnsinn getrieben war. Nach ihrem Krankenhausaufenthalt im Sommer 1978 wurde sie völlig von Abführmitteln abhängig und auch mehr und mehr von der Bulimie erfasst. Bulimie ist ein Zwang zu essen, regelrechte Fressgelage durchzuführen, sich dann zu übergeben, wieder zu essen, um sich von neuem zu übergeben. In Catherines Fall konnte so etwas zwei, drei oder mehr Stunden hintereinander andauern. Sie wurde hinterlistig und geschickt in ihren Versuchen, diese Manifestation ihrer Krankheit zu verheimlichen.

Ihr Gewichtsverlust zu dieser Zeit war extrem, so dass sie nicht mehr in der Lage war, die Schule zu besuchen. Dennoch bereitete sie sich allein weiter auf ihre Fachhochschulreife vor. Der Professor bemühte sich vergeblich, sie zu einer freiwilligen Rückkehr ins Krankenhaus zu überreden. Sie lehnte es kategorisch ab. Er glaubte, dass sie nur eine geringe Chance hatte, ihre Prüfung zu bestehen, wenn sie nicht im Krankenhaus war. Deshalb erklärte er mir die gesetzlichen Grundlagen für eine zwangsweise Einlieferung. Er bat mich aber, Catherine nichts davon zu sagen. Das hätte ich sowieso nicht getan, denn da ich ihren Widerwillen gegen das Krankenhaus kannte, fürchtete ich, sie würde lieber davonlaufen, als sich gegen ihren Willen ins Krankenhaus einweisen zu lassen.

Der Morgen des 9. November 1978, der Tag, an dem Catherine eingeliefert werden sollte, begann. Meine Schwester Elena kam, um mir beizustehen. Ich brauchte ihre Hilfe - es war eine weitere dieser schweren Prüfungen, die so oft im Laufe von Catherines Krankheit auftraten. Aber für Catherine selbst muss es eine noch viel größere Qual gewesen sein. Als die beiden Ärztinnen und die Sozialarbeiterin ankamen, wusste Catherine instinktiv, warum sie gekommen waren. Sie klammerte sich verzweifelt an mich und bettelte, ich möge sie doch fortschicken. Eine der Ärztinnen begann, ruhig auf sie einzureden. Sie appellierte an ihre Logik und ihren Verstand. Als sie geendet hatte, antwortete Catherine, die jetzt nach außen hin ruhig schien, mit ihren Argumenten, warum sie nicht ins Krankenhaus gehen wollte. Ich kann mich nicht an das erinnern, was sie sagte - ich war viel zu aufgeregt. Aber sie war besonders wortgewandt und geschickt in ihrer eigenen Verteidigung. Hätte sie vor Gericht gestanden, sie hätte ihren eigenen Fall gewonnen. Es kostete die beiden Ärztinnen und die Sozialarbeiterin mindestens zwei Stunden, bis sie sie überredet hatten mitzugehen. Erst als sie einsah, dass die drei sich nicht überzeugen lassen würden, willigte Catherine ein. Die Sozialarbeiterin, meine Schwester und ich brachten sie ins Krankenhaus. Als wir dort vorfuhren, kamen all die Ängste und Aversionen wieder hoch. Wieder musste ich das Krankenhaus mit ihren Schreien in meinen Ohren zurücklassen. Später am Abend, als ich niedergeschlagen und müde allein in unserer Wohnung saß, klingelte es an der Tür; Catherine war nach Hause zurückgekommen. Eine Minute nach Catherines Ankunft rief das Krankenhaus an, um mich zu informieren, dass sie verschwunden sei. Ich sagte ihnen, dass sie bei mir wäre, und versprach, sie später in der Nacht zurückzubringen. Ich erklärte Catherine, dass mir das Sorgerecht für sie entzogen worden war und dass das Krankenhaus, falls ich sie nicht zurückbrächte, die Polizei dazu auffordern würde. Sie war traurig, aber ruhig. Sie bat mich, ihr etwas Milchreis zu machen. Während sie ihn aß, unterhielten wir uns.

Danach erlaubte sie mir friedlich und ruhig, sie ins Krankenhaus zurückzubringen. Allerdings bestand sie darauf, dass ich den Schwestern sagen sollte, dass sie bereits gegessen hätte.

Kapitel 4

Etwa zu diesem Zeitpunkt kauften wir ein neues Haus. Weil John ein Jahr lang im Mittleren Osten gearbeitet hatte, konnten wir uns ein bisschen Geld zur Seite legen. In der Gegend, in der wir vorher gelebt hatten und die meisten unserer Freunde lebten, war nichts Passendes zu finden gewesen. Aber letztendlich fand ich 120 Kilometer von London entfernt ein Haus, das allen von John geforderten Eigenschaften entsprach. Catherine, Anna und ich mochten es sehr. Ich arbeitete unentwegt, damit alle noch erforderlichen Um­ und Ausbauten bis zu Johns Urlaub im Dezember, in dem wir einziehen wollten, fertig wurden. John gefiel das Haus jedoch vom ersten Augenblick an nicht, und so wurde das, was eine glückliche Zeit hätte sein sollen, zur Katastrophe. Catherine kam zum Weihnachtsfest nach Hause, und die ganze Familie besuchte uns, um mit uns zu feiern, aber die Stimmung war äußerst gespannt. Die Tatsache, dass so viele von Johns Problemen gelöst worden waren, hatte nicht geholfen. Ich fühlte mich so hilflos - ich konnte es nicht länger mit John aushalten und war durch Catherines Magersucht geschlaucht. Alles zusammen erwies sich als zuviel für mich.

Im Januar 1979 ging John nach Saudi-Arabien zurück. Simon setzte sein Medizinstudium fort, Richard ging nach Frankreich, wo er Französisch studierte, und Anna in ihr Internat, so dass Catherine und ich allein zurückblieben. Sie beschloss, eine der Sekretärinnenschulen am Ort zu besuchen. So war sie den ganzen Tag außer Haus, und wenn sie abends nach Hause kam, lernte sie verbissen Stenographie. Am Wochenende, wenn die anderen nicht von der Schule zu Besuch waren, versuchten wir immer, etwas Interessantes zu unternehmen, wie z.B. alte Städte oder historische Kirchen zu besuchen oder einfach spazierenzugehen. Gelegentlich wurde ich wegen ihres mangelnden Appetits wütend. Dann reagierte sie ihrerseits sauer - ich würde sie ja doch nicht verstehen. Im März war sie wieder im Krankenhaus, weil ihre Abhängigkeit von den Abführmitteln und die Bulimie von ihrem jungen Körper einen ordentlichen Tribut abverlangt hatten. John wünschte, dass Anna und ich ihn über Ostern für vier Wochen in Saudi‑-Arabien besuchten, und da Catherine im Krankenhaus war, entschlossen wir uns zu der Reise. Ich arrangierte, dass Catherine während dieser Zeit eine psychotherapeutische Behandlung erhielt. Sie wollte sich immer noch von ihrer Magersucht befreien, und als ich sie kurz vor meiner Abreise besuchte, sagte sie: "Dieses Mal schaffe ich es - für dich."

In Saudi-Arabien machte ich mir immer häufiger Sorgen um Anna; sie hatte abgenommen und aß viele Eiweißprodukte, sonst aber wenig. Ich behielt meine Ängste für mich, aber ich hatte jetzt eine weitere Sorge. Obwohl ich mich während der ganzen Reise nicht wirklich entspannt fühlte, war die Zeit doch weniger anstrengend, als ich befürchtet hatte, und John gab sich viel Mühe, um uns einen schönen Urlaub zu bereiten. Es freute mich, dass ich all meine Zeit und Aufmerksamkeit Anna widmen konnte. Wir schrieben jeden Tag an Catherine.

Kaum waren wir nach England zurückgekehrt, fuhren wir gleich als erstes ins Krankenhaus. Ich war mehr als erbost, als ich erfuhr, dass Catherine keine Psychotherapie erhalten hatte. Der Professor war in Amerika, und obwohl er Anweisung gegeben hatte, Catherine einer Psychotherapie zu unterziehen, waren seine Anweisungen aus irgendwelchen Gründen nicht befolgt worden. Ich war sehr wütend und zeigte meinen Unmut deutlich. Das Ergebnis war, dass Catherine gefragt wurde, ob sie eine psychotherapeutische Behandlung haben wollte, und natürlich lehnte sie glattweg ab. Sie wollte nur noch so schnell wie möglich aus der Klinik entlassen werden. Ihr Gewicht war wieder normal, aber wieder fühlte sie sich hässlich und aufgedunsen. Zu diesem Zeitpunkt waren die seelischen Auswirkungen am schlimmsten. Im Juni des Jahres beschloss sie - nach langem Hin und Her und vielen Diskussionen mit mir -, nach London zu gehen, sich eine Arbeit zu suchen und dort in die Wohnung einzuziehen, die Simon sich mit zwei Kommilitonen teilte. Richard kehrte von seinem einjährigen Frankreichaufenthalt zurück und hegte dieselben Absichten. Ich hatte das Gefühl, dass es Catherine sehr viel weiterbringen könnte, wenn sie unter jungen Menschen war. Sie fand einen angenehmen Job als Empfangsdame in einer Zahnklinik in der Harley Street. Sie lebte sich gut ein und schien Spaß an ihrer Arbeit zu haben.

Jedes Wochenende kam sie nach Hause. Damals schrieb ich dem Professor im Krankenhaus und bat ihn, einen Arzt in der Nähe der Harley Street zu empfehlen, der Catherine psychotherapeutisch betreuen könnte.

Catherine entwickelte sofort ein gutes Verhältnis zu dem neuen Arzt. Nach jeder Sitzung rief sie mich an und sagte: "Wie böse und gemein ich auch immer sein mag, was auch immer meine Reaktion ist, du musst mich das nächste Mal zum Essen zwingen." Zu guter Letzt hatte ich die Hoffnung, dass Catherine endlich gesund werden würde.

Einmal kam sie am Wochenende nach Hause und erzählte mir, dass der Arzt wollte, dass sie jede unglückliche Erfahrung, an die sie sich bis in ihre früheste Kindheit erinnern könnte, aufschreiben sollte. Dies war eine traumatische Übung für sie; sie brauchte das ganze Wochenende dafür und weinte fast die ganze Zeit über. jede unglückliche Erfahrung hatte entweder mit Essen oder mit ihrem Vater zu tun ...

Zu dieser Zeit bereitete es ihr große Probleme, sich den alle zwei Wochen von den anderen Angestellten der Zahnklinik organisierten Abendessen zu entziehen. Sie verbrachte ganze Tage voller Angst davor, eingeladen zu werden, und sie wurde natürlich stets gefragt. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, wenn sie absagte und dachte, die anderen könnten sie für unfreundlich oder hochmütig halten. Ihr Arzt half ihr bei diesem Problem wirklich sehr, und obwohl sie diese Abendessen fürchtete, ging sie ab und zu hin und hatte hinterher wirklich das Gefühl, etwas erreicht und einige ihrer Ängste überwunden zu haben. Simon und Richard benahmen sich ihr gegenüber großartig und beteiligten sie an allem, was sie machten. Sie nahm nicht an allen ihren Unternehmungen teil, aber die Tatsache, dass sie sie dabeihaben wollten, war für sie von großer Bedeutung. Manchmal begleitete sie ihre Brüder in eine Kneipe, in der sie sich mit anderen jungen Leuten  trafen. Aber obwohl diese Leute alle sehr nett zu ihr waren, fühlte sie sich völlig isoliert und unfähig, an ihren Gesprächen und ihrem Spaß teilzunehmen. Richard brachte sie dann meist nach Hause, oder sie nahm sich allein ein Taxi zurück zur Wohnung. Sie erzählte mir, dass sie an solchen Abenden nie das Gefühl hatte, dazuzugehören, sondern sich immer "anders", "seltsam" fühlte. Und obwohl sie immer in Ruhe gelassen werden wollte, brauchte sie ihre Freunde und wollte unter allen Umständen, dass sie sie verstanden. Es war ihr völlig klar, wie schwierig sie anderen erscheinen musste; dennoch war sie tief getroffen, wenn es jemandem egal war und er nicht versuchte, sie zu begreifen.

In jenem Sommer, bevor sie nach London zog, hatte Catherine ein besonders enges Verhältnis zu ihrem Bruder Richard bekommen. Sie schwammen viel und spielten Tennis miteinander. Als sie gerade erst fünfzehn Jahre alt geworden war, nahm er sie auf ihre erste "Erwachsenenparty" mit und erzählte mir später, wie stolz er gewesen war, als alle sagten, dass sie das hübscheste Mädchen des Abends sei. Ihm fehlte nun die enge Beziehung, die sie damals miteinander verbunden hatte.

John schlug vor, dass wir alle den August bei ihm in Saudi-Arabien verbringen sollten. Catherine wollte nicht mitkommen, und es wurde beschlossen, dass sie in der Wohnung in London bleiben und ihre Psychotherapie fortsetzen sollte; sie würde kaum alleine sein, da Simons Freunde, die Catherine alle kannte, ständig kamen und gingen. Wir wollten vier Wochen wegbleiben. Bevor wir losfuhren, ging ich mit Anna zu Catherines Arzt, da auch ihr Gewichtsverlust inzwischen unübersehbar geworden war. Sie wusste, dass ich von ihren Essproblemen wusste, aber sie sprach nie darüber. Obwohl ich fast außer mir vor Sorge war, beschloss ich, keine große Sache daraus zu machen. Anna grauste es bei dem Gedanken, einen Psychotherapeuten aufsuchen zu sollen; aber was immer er ihr auch sagte, es hatte eine großartige Wirkung. Von jenem Tag an aß sie mehr und trank außerdem fast zwei Liter Milch täglich. Aber obwohl sie jetzt an Gewicht zunahm und ihr Essproblem im Griff zu haben schien, wussten sie und ich, dass es weiterhin vorhanden war und drohend unter der Oberfläche wartete. Erst später konnte sie dann offen über ihre "milde Magersucht" sprechen. Diese dauerte ungefähr zwei Jahre, aber es brauchte noch einmal so lange, bis sie zugeben konnte, dass sie dieses Problem hatte. Es war für uns beide eine schwierige Zeit. Catherine war sich von Anfang an über Annas Problem bewusst; hier ist ein Brief, den sie Anna in dieser Zeit schrieb:

Mittwoch, 30. Juli 1979

Meine liebste Anna, da Du jetzt wieder in der Schule bist, geht es Dir sicherlich nicht so schlecht! Es war schön, Dich am letzten Wochenende zu treffen, obwohl ich es kaum erwarten kann, Dich wieder in Deiner alten Verfassung zu sehen. Ich hoffe nicht, dass das böswillig klingt - ich verstehe sehr gut, dass Du in einer schwierigen Phase steckst, wir alle haben sie irgendwann durchgemacht, und Du bist nicht die einzige, die leidet. Das soll Dich trösten. Du hast alles - die Liebe Deiner Familie, ein schönes Zuhause, eine nette Schule und eine gute Erziehung. Du bist Stufensprecherin und stellvertretende Schulsprecherin (und alles durch Deine eigene Leistung), also ruiniere Dein Leben nicht. Ich weiß, wie es ist, ich habe drei Jahre meines Lebens damit vergeudet, in psychiatrischen Kliniken ein- und auszugehen und regelmäßig Psychiater aufzusuchen. Bitte vermeide das. Ich muss mich mit dem auseinandersetzen, was ich getan habe, um nicht mehr davon sprechen zu müssen. Dank sei Gott, dass ich jetzt fast darüber hinweg bin und endlich wieder damit anfange, mein Leben zu leben.

Unglücklicherweise viel zu spät, denn es ist mir klar geworden, dass ich auch drei Jahre unseres Familienlebens zerstört habe, insbesondere Muttis, weil auf ihr die Verantwortung für uns alle lastet. Sie kann kaum noch mehr verkraften. Du und ich, wir bereiten ihr im Moment zu viele Sorgen; sie wird jeden Augenblick zusammenklappen. Bitte, schreib ihr und entschuldige Dich für Dein Benehmen zum Halbjahreswechsel. Ich weiß, dass es keinesfalls absichtlich geschah, aber erkläre ihr einfach ausführlich, wie Du Dich fühlst. Es wird sie erleichtern. Ihr seid immer so gut miteinander zurechtgekommen, und jetzt könnt ihr nicht einmal mehr miteinander reden. Es tat ihr sehr weh, und Dir vielleicht auch.

Ich versichere Dir, dass diese schlechte Zeit vorbeigehen wird. Du musst sie bekämpfen und zu Gott beten. Er wird Dir helfen. Denk nur daran, wie gut Du Dich bald fühlen wirst, wenn Du das alles in Deinem Hinterkopf absinken lassen kannst - Du wirst Dich wie neugeboren fühlen.

Wir alle lieben Dich sehr, liebste Anna, und wir werden Dir auf jede uns mögliche Weise helfen. Ich habe erfahren, dass man sich selbst einen Tritt geben muss. All meine Liebe und meine Fürbitten sind mit Dir. Ich hebe Dich trotz unserer Hochs und Tiefs,

Catherine

Als wir Ende August nach Hause kamen, sah Catherine sehr dünn und krank aus. Der Arzt, der Catherine psychotherapeutisch behandelt hatte, war mit seiner Familie in Urlaub gefahren und hatte sie in die Obhut eines Kollegen gegeben. Catherine konnte keinen Kontakt zu diesem anderen Arzt aufbauen und musste daher die weitere Behandlung abbrechen. Als der andere Arzt aus dem Urlaub zurückkam, hatte sie bereits so viel an Gewicht verloren, dass sie sich weigerte, ihn aufzusuchen, weil sie fürchtete, dass er sie wieder ins Krankenhaus einweisen würde. Er schrieb ihr und rief sie an, aber sie ging immer noch nicht zu ihm. Ihr 18. Geburtstag stand kurz vor der Tür, und sie wusste, dass sie von da an von allen Ärzten befreit sein würde. Sie konnte es kaum erwarten. Ihre Diät bestand damals aus einem Apfel pro Tag.

Im September gab Catherine ihren Job in der Zahnklinik auf und begann einen Lehrgang für Sekretärinnen an einem bekannten Londoner College. Ihre Lehrer lobten sie einstimmig und sagten, sie sei eine der besten Schülerinnen, die sie je gehabt hätten. Aber Catherine bekam noch vor Ende des Halbjahres eine Lungenentzündung und konnte nicht mehr zurück, um das Schuljahr abzuschließen. Ihr Gewicht war nun bei sage und schreibe … Kilo angelangt.

Obwohl die Lungenentzündung mit Hilfe von Antibiotika wieder verschwand, fühlte sich Catherine nach wie vor sehr krank. Eines Nachts sagte sie mir, sie glaube, dass sie sterben werde. Ich bestand darauf, den Arzt anzurufen, von dem sie ihre psychotherapeutische Behandlung erhalten hatte. Ich beschrieb ihm Catherines Zustand, und er bat darum, mit ihr sprechen zu dürfen. Er redete mindestens eine Stunde lang auf sie ein. Dann nahm ich Catherine den Hörer wieder ab, und er sagte mir, dass er Catherine dazu überredet habe, ins Krankenhaus zu gehen - in ein privates diesmal, und zwar schon am darauf folgenden Morgen. Er sagte mir, dass er sich große Sorgen um sie mache und dass sie jeden Moment sterben könne. Catherine war so außer sich wegen des bevorstehenden Krankenhausaufenthaltes, dass sie in jener Nacht bei mir schlief. Am frühen Morgen weckte sie mich und bat mich, sie nicht in die Klinik zu bringen. Ich blieb eisern: wie konnte sie von mir, ihrer eigenen Mutter, erwarten, dass ich sie sterben lassen würde? Sie musste ins Krankenhaus gehen und damit Schluss. Nur wer schon einmal versucht hat, mit einem Magersüchtigen zu diskutieren, wird verstehen, wie sinnlos es ist. Am Ende versprach sie mir: "Wenn du mir etwas kochst, esse ich es!" Sie versprach auch, dass sie von da an drei Mahlzeiten am Tag zu sich nehmen wolle und dass sie, wenn sie dieses Versprechen in den nächsten vierzehn Tagen brechen sollte, sofort ins Krankenhaus gehen würde. Um drei Uhr früh stand ich also an diesem Morgen auf, ging in die Küche, machte ihr ein Omelett und bestand darauf, dass sie auch eine Scheibe Brot mit Butter zu sich nahm. Sie aß es. Später rief ich den Arzt an und erzählte ihm von unserem Kompromiss. Er war nicht allzu glücklich darüber. Aber wenn ich sie an diesem Morgen gezwungen hätte, ins Krankenhaus zu gehen, wäre sie an der ersten roten Ampel aus dem Auto gesprungen oder weggelaufen, noch bevor wir überhaupt losgefahren wären. Die nächsten zehn Tage aß sie dreimal täglich ein Gericht. Sie fing an, besser auszusehen und nahm etwa … Kilo zu.

Als John aufgrund eines Briefes meinerseits (in dem ich vorschlug, dass wir uns trennen sollten) nach Hause kam, hörte sie wieder auf zu essen. Er sagte, er sei am Boden zerstört gewesen, als er meinen Brief bekam, da er nicht eine Sekunde lang daran gedacht hatte, dass unsere Ehe etwas anderes als sicher sein könnte. Wir führten endlose Gespräche, in denen er meist die Rolle des Inquisitors übernahm. Er wollte mir alles geben, wenn ich nur bliebe; er behauptete, er habe sich zum Besseren gewandelt, und dass ich von nun an tun und lassen könne, was ich wolle. Ich traute seinen Worten aber einfach nicht.

Anfang 1980 zog ich aus. John hatte beschlossen, für immer aus Saudi-Arabien zurückzukehren, und wir konnten einfach nicht unter einem Dach miteinander leben. Ich fühlte auch mein Versagen, was Catherine betraf, und konnte den Alptraum ihrer Magersucht nicht länger ertragen. Ich ging, ohne genau zu wissen, wohin. Ich wohnte in einem Hotel, bis ich irgendwo ein Zimmer zur Untermiete fand. Ich blieb in Kontakt mit den Kindern, die sich alle sehr um mich sorgten. Ich wollte frei sein und brauchte Zeit zum Nachdenken.

Ich wusste, dass ich mich sehr egoistisch benahm. Ich hatte nie das Gefühl gehabt, dass John mir in Bezug auf Catherines Krankheit irgendeine Hilfe gewesen war; und nun wollte ich die ganze Last auf jemand anderes abwälzen. Dass dieser jemand Catherines Vater war zu dem sie immer schon ein schwieriges Verhältnis gehabt hatte: führte zu Schuldgefühlen. Aber ich verdrängte sie, so gut es ging.

Catherines Tagebuch

Januar 1980

Heute morgen habe ich nach dem Aufstehen das Haus saubergemacht, dann habe ich gebadet und meine Haare gewaschen. Nach dem Mittagessen sind wir nach Marlborough gefahren und haben eingekauft.

Wir haben einen Brief von Mutti bekommen. Es war ein lieber, tröstender Brief, in dem sie uns darum bittet, dass wir nicht versuchen sollen herauszufinden, wo sie steckt. Ich habe mir beim Mittag- und Abendessen große Mühe gegeben, um mehr zu essen. Wie wird wohl morgen mein Gewicht sein? Wir haben Hugo heute Nachmittag zum Tierarzt gebracht. Er hat jetzt alle seine Impfungen. [Kilogramm].

Januar 1980

Heute beträgt mein Gewicht Kilo. Das macht mich sehr nervös. Ich habe die Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme reduziert. Es war ein merkwürdiger Tag, wenn er auch nicht so lang erschien, wie ich erwartet hatte. Wie üblich habe ich morgens das Haus in Ordnung gebracht und dann gebadet. Heute Nachmittag habe ich an meiner Stickerei weitergearbeitet und dann den Schluss von Simons Notizen abgetippt. Vati und ich sind einkaufen gefahren und haben Hugo im Wagen mitgenommen. Anna ist heute abend nach Hause gekommen. Sie ist sehr verstört wegen Mutti und kann nicht verstehen, warum sie gegangen ist. Beim Zubettgehen schien sie aber wieder in Ordnung zu sein. Heute abend fühle ich mich sehr niedergeschlagen, da jeder sich bei mir anlehnt und seine Ängste und Sorgen bei mir ablädt. Ich habe niemanden, bei dem ich das tun könnte. Es ist schwer. Meine Abführmittel waren heute nicht sehr wirkungsvoll, was mich beschäftigt. Wieviel werde ich morgen früh wiegen? Bitte, lieber Gott, lass mein Gewicht gesunken oder zumindest nicht gestiegen sein. Ich fühle das Bedürfnis, mich zu übergeben ...

Januar 1980

Mein Gewicht lag heute morgen bei , was mir sehr gefällt. Es war dennoch ein gefühlsmäßig anstrengender Tag. Opa ist letzte Nacht gestorben. Er ist aus dem Bett gefallen und hatte einen Schlaganfall. Bitte, lieber Gott, hilf uns. Mutti ist immer noch fort - was mag ihr das wohl bringen? Bitte hilf uns, die Familie sehr, sehr bald wieder zu vereinigen. Amen. Möge der morgige Tag wieder einen Funken Hoffnung oder einen Lichtstrahl in unser Leben bringen.

Januar 1980

Mein Gewicht betrug heute Kilo. Gott sei Dank - ein ganzes Stück weniger als gestern. Ich fühle mich froh und erleichtert. Ich habe heute kaum etwas zu mir genommen und werde mein Essen jetzt weiterhin auf ein Minimum reduzieren, da ich mein Gewicht zwischen und Kilo halten möchte. Nach dem Essen bin ich nach Marlborough und zurück gefahren.

Vati war überraschenderweise den ganzen Tag guter Laune, etwas, was ich niemals erwartet hätte. Na ja, ich vermute, dass er heute früh einen leichten Kater hatte! Wir haben heute nachmittag mit Anna telefoniert. Sie war ziemlich weinerlich und wünscht sich sehnlichst, dass Mutti nach Hause zurückkommen möge.

Januar 1980

Mein Gewicht betrug Kilo, was mich zufrieden stimmte. Es ist, ehrlich gesagt, nicht allzu viel passiert - ich habe nur wenig zu berichten. Mutti hat heute mittag angerufen und gebeten, dass Vati sie abholen möchte. Er hat sie nach London gebracht. Sie war offenbar sehr traurig, erlaubte ihm aber, sie zum Essen auszuführen.

Ich bin sehr niedergeschlagen. Während ich alleine war, habe ich mich gezwungen, mich zu übergeben. Das hat mir nicht gefallen, weil ich jetzt wirklich ohne das auskommen müsste ...

Januar 1980

... Ich bin in einer merkwürdigen Stimmung, ich fühle mich leer und allein. Ich verstehe es nicht.

Februar 1980

Ich habe heute morgen nur Kilo gewogen, was meinen Tag rettete. Ich fühle mich sehr niedergeschlagen und krank, meine Abführmittel haben mich krank gemacht.

Vati ist so gegen halb fünf Uhr nach London gefahren, so dass ich mich auf mein großes Fressgelage vorbereitet habe, mit dem ich um sechs Uhr anfing und um halb neun aufhörte.

Ich habe das Haus von oben bis unten geputzt und außerdem Simons letzte Notizen abgetippt.

Februar 1980

Mein Gewicht betrug heute morgen Kilo. Es wird morgen wieder zunehmen, weil es nur vom Wassermangel wegen meiner Fress- und Kotzorgie gestern abgenommen hat. Ich war mit dem Essen heute sehr vorsichtig, weil ich mein Gewicht gerne auch morgen halten möchte.

... Ich habe mit Anna telefoniert; ich fürchte, sie war etwas traurig.

Februar 1980

Ich habe heute Kilo gewogen, was mir sehr gefallen hat. Ich hatte erwartet, dass ich heute etwas mehr wiege.

Ich bin heute wieder auf einen heftigen Fress- und Kotztrip gegangen, der den ganzen Nachmittag andauerte.

Anschließend habe ich 1 ¼ Flaschen Mineralwasser und eine Tasse Tee getrunken und habe wie üblich ein Kitkat genascht. Ich habe auch ein Zäpfchen und eine zweite Dosis Abführmittel genommen. Mein Magen ist jetzt ziemlich aufgebläht.

Februar 1980

Ich habe heute morgen Kilo gewogen, was mich nicht so sehr störte, da ich jetzt eingesehen habe, dass ich mir selbst Schwankungen zwischen … und … Kilo zugestehen muss. Aber mehr als das könnte ich nicht ertragen.

Vati ging es heute morgen richtig schlecht, was mein Leben äußerst eintönig, öde und schwierig gestaltet. Na ja, zum Glück hatte er sich bis zum Nachmittag gefangen. Ich habe massenhaft Diktate für ihn erledigt, was mir die Zeit vertrieben hat.

Heute abend sind wir ganz furchtbar aufeinander losgegangen und waren beide sehr verstört.

Februar 1980

... Ich hatte heute einen sehr geschäftigen Tag; ich habe das Haus von oben bis unten geputzt. Und ich habe es tatsächlich geschafft, nicht zu fressen - bis zum Abend, da habe ich mich auf ein langes Festgelage eingelassen. Am Anfang war das Erbrechen nicht sehr erfolgreich, aber dann habe ich ein zweites Gelage durchgeführt und geschafft, meinen ganzen Magen zu entleeren.

Februar 1980

Ich habe heute Kilo gewogen, mein Erbrechen war erfolgreich. Ich bin nach London gefahren und habe mir die Haare schneiden lassen. Dann bin ich zu Mutti gegangen, und wir haben uns ziemlich gut unterhalten. Ich fühle mich immer noch sehr niedergeschlagen, weil sie glaubt, dass sie mit ihrer Entscheidung, wieder zu Vati zurückzukommen, die falsche Wahl getroffen hat. Sie ist in ziemlich schlechter geistiger Verfassung. Es tut mir wirklich sehr weh ... Ich fühle mich innerlich wie taub.

Februar 1980

Ich habe heute Kilo gewogen. Es war ein schrecklicher Tag. Vati ist früh nach London gefahren. Ich bin einfach zusammengebrochen und habe stundenlang laut geheult; ich kann einfach nicht mehr.

Am Nachmittag habe ich ein riesiges Fressgelage veranstaltet. Es ist im Prinzip eine Sucht, die nur auftritt, wenn ich allein zu Hause bin. Ich bin so fertig ...

Februar 1980

Gewicht: Kilo ... Wir haben uns zum Mittagessen mit Anna, Mutti und Simon getroffen. Richard war für den Tag zu einem Freund gefahren. Es war ein schönes Gefühl, zusammen zu sein ...

Heute abend waren wir in einem Gottesdienst in der Brompton-Kapelle, und ich bin gefahren. Mutti, Vati und Anna konnten kaum glauben, wie gut ich fuhr!

Februar 1980

Mein Gewicht betrug heute Kilo. Ich war erfreut und habe versucht, viel mehr zu essen, so dass ich morgen zugenommen haben werde. Das ist grundsätzlich so, wenn ich auch nur einen Happen mehr esse als am Tag davor.

Februar 1980

Mein Gewicht lag heute bei ... Vati war heute früh extrem niedergeschlagen, riss sich aber nach und nach zusammen. Trotzdem war er den ganzen Tag über sehr angespannt. Ich fühle mich so hilflos, wenn er so ist, weil nichts, was ich sage oder tue, ihm helfen kann. Anna hat angerufen; sie war ein bisschen einsam und fühlte sich noch immer unsicher. Unglücklicherweise bin ich heute in schlechter Stimmung, weshalb ich ständig irgend etwas nasche. Ich mag gar nicht daran denken, was ich morgen wiegen werde.

Februar 1980

Ich habe heute gewogen ... Ich fühle mich so schlecht und niedergeschlagen. Wie sieht wohl meine Zukunft aus? Ich weiß, dass ich, mehr als alles andere, einen Abschluss als Sekretärin machen und mit dem Berufsleben anfangen möchte, aber im Augenblick sieht es wegen der Familiensituation nicht so aus, als ob ich im April wieder anfangen könnte.

Ich habe das Gefühl, dass mich als Mensch niemand mag - und ich mag mich selbst auch nicht. Ich bete zu Gott, dass wir das andere Haus kaufen und dieses verkaufen können.

Ich habe mich heute stärker um mein Essen bemüht. Meine Abführmittel waren im Verhältnis zu den anderen Tagen äußerst wirkungsvoll.

Februar 1980

Heute morgen habe ich Kilo gewogen. Vati war wirklich sehr niedergeschlagen. Ich weiß einfach nicht, wie ich mit ihm umgehen soll. Später habe ich Mutti getroffen; ich liebe sie so sehr... Ich habe sie gebeten, zu uns zurückzukommen.

Als ich nach Hause kam, hatten Vati und ich einen Streit. Er ging hinauf in sein Zimmer und sagte, er würde mir bis Sonntag ganz einfach aus dem Weg gehen. Das hielt jedoch nicht lange vor ‑- er kam heute abend herunter, während ich am Fressen war. Er bemerkte es jedoch nicht, so dass ich einfach nach oben verschwand. Als ich herunterkam, versöhnten wir uns.

4. März 1980

Mein Gewicht betrug heute morgen Kilo, so dass ich wirklich zufrieden war, obwohl ich weiß, dass es Zeit für mich ist, etwas zuzunehmen, insbesondere, da wir das Haus verkauft haben, was bedeutet, dass wir innerhalb der nächsten zwei Wochen umziehen werden. Die Urkunden sollen an diesem Freitag unterschrieben werden.

Während der drei Monate, in denen ich fort war, verkaufte John das Haus und kaufte ein anderes in jener Gegend, in der wir früher gelebt hatten - dort, wo unsere finanziellen Probleme und Catherines Krankheit begonnen hatten.

Wann immer ich Catherine in dieser Zeit traf, war sie voller Lob für ihren Vater - wie verständnisvoll, wie tolerant er geworden sei. Ich glaubte, dass sie zu einem besseren Verständnis füreinander gelangt waren, aber zwei Jahre später erzählte mir Catherine die Wahrheit. Ihr Vater war in eine tiefe Depression gefallen und in Wirklichkeit war sie es, die ihn immer wieder durch die schwarzen Momente führte und alles tat, um für uns alle ein neues Zuhause zu schaffen.

Catherines Tagebuch

5. März 1980

Ich wiege jetzt Kilo. Ich weiß, dass ich zunehmen muss, aber ich habe Angst davor. Trotzdem. ich fühle mich zu dünn, so wie ich jetzt bin. Ich möchte wieder hübsche Kleider tragen können. Ich weiß, dass ich mich insgesamt wohler und normaler fühlen würde, wenn ich etwas zunehmen könnte. Ich sehne mich danach, mich so zu fühlen, wie ein Mädchen meines Alters sich fühlen sollte. Ich habe Mutti heute den Vertrag für das Haus zum Unterschreiben gebracht. Ich hoffe, sie entschließt sich, zur Familie zurückzukommen. Ich denke, sie wird es tun.

März 1980

Ich wiege Kilo. Ich bin heute früh zu Mutti gegangen. Sie hat mir gesagt, dass sie zu uns zurückkommt. Ich bin ganz aus dem Häuschen. Sie möchte, dass ich mit ihr und Anna am 31. nach Frankreich fahre. Ich werde mal abwarten.

März 1980

Ich habe heute morgen Kilo gewogen. Wir sind um 7 Uhr früh von zu Hause weggefahren und haben den ganzen Tag damit verbracht, in Surrey Handwerker etc. zu besuchen. Es gibt einfach so viel zu tun, dass ich schon ganz entmutigt bin. Werden wir je umziehen und uns wieder einleben? Ich bin durch die alte Gegend gefahren; sie hat sehr viele Erinnerungen in mir geweckt. Ich sehne mich danach, dorthin zurückzuziehen - wirklich.

April 1980

Ich wiege heute ... Ich war ganz ruhig, als ich mich nach meinem Fressgelage heute im Spiegel sah - ein Skelett.

April 1980

Heute morgen habe ich Kilo gewogen. Anna hat lange mit mir über meine Magersucht gesprochen und mich gefragt, was ich dagegen unternehmen möchte. Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.

April 1980

Heute morgen konnte ich mich nicht wiegen, weil Anna die Waage vor mir versteckt hat. Ich bin fast verrückt geworden, weil ich sicher bin, dass ich zugenommen habe. Aber ich habe bis jetzt schon zwei Dosen Abführmittel genommen und werde heute nach dem Abendessen noch eine nehmen ... Mutti kam gegen Mittag vorbei, und Vati ist mit ihr ausgegangen. Sie sind nach Croydon gefahren. Ich bin zu Herrn ... bei Nestle gegangen. Er war sehr nett, ich habe einen Job angeboten bekommen und angenommen. Am Montag fange ich an.

Mai 1980

Heute morgen habe ich Kilo gewogen. Ich bin furchtbar ärgerlich deswegen. Das ist zuviel, ich will nicht mehr als … Kilo wiegen. Ich fühle mich sehr krank und voll.

Aus Gewissensgründen bin ich zu meiner Familie zurückgegangen, aber ich fühlte mich von ihr getrennt. Ich war sehr unglücklich und konnte mich in nichts eingewöhnen. Eines Morgens im Juli packte ich meinen Koffer und fuhr für sechs Wochen weg. Ich reiste durch halb England und blieb jeweils für zwei oder drei Tage, wo immer es mir gerade gefiel. Es war eine Phase großer Einsamkeit und Selbstsuche.

Während der sechs Wochen rief ich zu Hause an und sprach mit Anna. Ich fragte: "Was machst du?" Sie antwortete: "Ich mache einen Auflauf zum Abendessen." Als ich den Hörer auflegte, wusste ich, dass nicht Anna, sondern ich das Abendessen kochen sollte. Ich wusste auch, dass ich schon um Catherines und Annas willen nach Hause zurückkehren musste. Am nächsten Tag fuhr ich tatsächlich.

Im September desselben Jahres arbeitete John für eine Firma in London. Simon musste für sein erstes klinisches Semester an die Universität zurück. Richard arbeitete erfolgreich bei einer Maklerfirma, und Anna ging wieder zur Schule, um sich auf das Abitur vorzubereiten. Catherine beschloss, ihre Ausbildung als Sekretärin wieder aufzunehmen. Das College, das sie für kurze Zeit besucht hatte, war damit einverstanden, dass sie den halbjährigen Intensivkurs machte. Dieser schloss alle Aspekte der Sekretärinnenausbildung ein und war normalerweise Universitätsabsolventen vorbehalten. Am Ende der sechs Monate war sie die einzige, die mit "sehr gut" abschloss. In dieser Zeit stabilisierte sich ihr Gewicht bei … Kilo. Sie aß nie mit der Familie und nur selten das, was wir alle aßen. Sie kochte sich riesige Mengen nach ihrem eigenen Geschmack und naschte dann immer wieder mal etwas. Das Kochen und Naschen war ein wichtiges Ritual, und niemand durfte in dieser Zeit in der Küche sein. Das war für alle sehr anstrengend.

Im darauf folgenden Januar, drei Monate vor ihrem Diplom, gab mir eine Freundin den Namen einer Ärztin, die einige Erfolge in der Behandlung von Magersucht erzielt hatte. Ich gab den Hinweis an Catherine weiter, die sagte, dass sie keinerlei Interesse an einer ärztlichen Behandlung habe. Dennoch vereinbarte sie kurz darauf einen Termin und bat mich, sie zu begleiten. Die Ärztin unternahm eine eingehende Untersuchung und erschrak über Catherines Zustand. Sie schlug eine Therapie vor, die aus einer Behandlung mit Antidepressiva einerseits und Hormonen andererseits bestand. Bei einem Mädchen, das am Tag etwa … Abführ-Tabletten schluckte, war die Wahrscheinlichkeit eines Erfolges relativ gering, da die Medikamente nicht lange genug im Körper blieben, um anzuschlagen. Catherine versuchte es nur zwei Wochen lang und stieg dann wieder aus der Behandlung aus. Ich hatte nie geglaubt, dass diese Behandlung bei Catherine funktionieren könnte. Aber ich behielt diesen Gedanken für mich, weil ich froh darüber war, dass sie sich noch einmal auf einen Arztbesuch eingelassen hatte. Meine Erleichterung war nicht von großer Dauer. Nach ihrem Abschluss fand sie innerhalb einer Woche einen Job als Chefsekretärin in einer Exportfirma im Zentrum von London. Sie war für die Organisation des Büroalltags, das Buchen der Geschäftsreisen, die Reservierung von Hotels und Terminen für Geschäftsbesuche sowie die Handhabung der Telexmaschine zuständig. Alles in allem war es eine anstrengende und herausfordernde Arbeit für ein junges, gerade erst fertig ausgebildetes Mädchen, aber sie erledigte alles problemlos und hatte viel Spaß dabei. Sie arbeitete von 9 Uhr 30 bis 17 Uhr 30 an fünf Tagen in der Woche. Aber selten kam sie tatsächlich vor 18 Uhr 30 oder 19 Uhr aus dem Büro. Es war ein langer und mühsamer Tag für jemanden mit einer so angegriffenen Gesundheit wie Catherines, aber ihre Geistesgegenwärtigkeit und Energie halfen ihr durch den Tag. Obwohl sie schrecklich dürr war - sie wog nur Kilo -, hatte sie sich ihr schönes Gesicht bewahrt. Sie zog sich gut und geschickt an, um ihre Krankheit zu verbergen. Ihr ganzes Leben kreiste um ihr Zuhause und ihre Arbeit. Außerhalb ihrer Arbeit und der Familie aber lebte sie in vollständiger Isolation. Sie war sehr von mir abhängig und brauchte alle Liebe und Geduld, die ich nur für sie aufbringen konnte.

Ungefähr ein Jahr lang notierte Catherine regelmäßig, was sie aß. Ich muss hinzufügen, dass sie nur in ihren Fressgelagen auch feste Nahrung zu sich nahm. Ansonsten kaute sie das Essen, nahm es dann wieder aus dem Mund und legte es in eine Schüssel. Wenn sie einmal außerhalb etwas aß, wurde die Schüssel durch eine "geheime" Plastiktüte oder ihre Taschen ersetzt.

Die Wiederholungen auf den folgenden Seiten verdeutlichen das Ausmaß ihrer Besessenheit, was das Essen und ihr Körpergewicht betraf:

Catherines Tagebuch

August 1980

Ich habe mich seit letzten November nie so krank und schwach gefühlt wie heute. Wie ich die Arbeit überstanden habe, werde ich wohl nie erfahren.

25. Juni 1981

Laune: gemischt.

Gewicht: Kilo

Frühstück: …

Mittagessen: …

Abendessen:

Freßgelage: …

Abführmittel: … heute morgen und abend (Arbeit)

Anmerkungen: Kein allzu schlechter Tag. Gilly und Anna haben ihr Abitur fertig und sind heute nach Hause gekommen. Vati hat nicht wirklich mit mir geredet. Ich habe gefressen, weil ich einfach den Zwang dazu verspürte.

26. Juni 1981

Laune: anormal fröhlich

Gewicht:

Frühstück: …

Mittagessen: …

Abendessen: … (wohlwissend, dass ich mich später würde übergeben können)

Freßgelage: …

Abführmittel: ungefähr heute morgen und abend (Arbeit)

Anmerkungen: Kein allzu schlechter Tag. Ich wusste, dass die Familie so gegen 21 Uhr ausgehen würde. Also aß ich so gegen 18 Uhr 50 zu Abend und später, als sie fort waren, führte ich ein Fressgelage durch. Ich war heute ziemlich fröhlich, aber verspürte tief drinnen eine Depression; warte darauf, dass sie ausbricht. Es könnte noch ein paar Tage dauern, bei mir weiß man das nie so genau.

28. Juni 1981

Laune: niedergeschlagen Gewicht:

Frühstück: …

Mittagessen: …

Abendessen: …

Freßgelage: Ich habe um 16 Uhr angefangen und um 19 Uhr 30 aufgehört. …

Abführmittel:… (… morgens, abends)

Anmerkungen: Heute morgen bin ich richtig zusammengebrochen und habe Vati und Mutti mein Herz ausgeschüttet. Ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass es jemals besser wird. Ich bin sicher, dass Mutti der einzige Mensch ist, der mir helfen kann. Ich hatte einen furchtbaren Nachmittag. Ich habe gefressen und weiß nicht, wieviel Essen in mir drin geblieben ist, aber es fühlt sich nach viel an. Ich habe hinterher Kilo gewogen. Es ist jetzt 23 Uhr 30; die zusätzlichen Abführtabletten zeigen keine große Wirkung. Mein Magen ist gebläht und voller Luft. Hoffentlich habe ich morgen nicht zugenommen. Ich habe solche Angst und bin innerlich so angespannt. Lieber Jesus, hilf mir bitte!

29. Juni 1981

Laune. mittel

Gewicht:

Frühstück: …

Mittagessen: …

Abendessen: …

Fressen: …

Abführmittel: Ca. …

Anmerkungen: Ich habe entsetzliche Kopfschmerzen. Ich bin verstört wegen meines Gewichts. Es ist nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte, aber dennoch keineswegs gut. Heute abend ist Vati weg. Ich bin wirklich verzweifelt. Ich wollte so gerne mit Mutti reden, aber bis nach meinem Fressgelage haben wir kaum ein Wort miteinander gewechselt. Oh, ich liebe sie so sehr!

1. Juli 1981

Laune: mittel, aber schlecht am Abend Gewicht:

Frühstück: …

Mittagessen: …

Abendessen:

Freßgelage: .

Abführmittel: Ca. …

Anmerkungen: Ich hatte mir für heute wirklich vorgenommen, nicht zu fressen, und bis 22 Uhr 30 fühlte ich mich auch wohl. Mein Fressen dauerte von 22 Uhr30 bis 2 Uhr 40 an.

Hilfe! Vati hat mich heute abend gepiesakt, und Mutti war böse auf Hugo. Sie hatte etwas für ihr Kaffeekränzchen morgen gebacken und er hat es vernascht.

Ich bin heute abend traurig und niedergeschlagen.

4. Juli 1981

Laune: gut (heute abend eher schlecht) Gewicht:

Frühstück: …

Mittag: …

Teatime: …

Abendessen: …

Fressgelage. Abführmittel: Ca. … Anmerkungen: Ich bin heute nach London gefahren und habe mir meine Haare schneiden lassen. Mutti und ich machten dann einen gemütlichen Einkaufsbummel. Meine Abführmittel zeigten bis 17 Uhr 45 keine Wirkung, und ich bin für das kleine Geschäft nur zweimal während des ganzen Tages auf dem Klo gewesen. Da ich nicht die Absicht habe, heute noch zu erbrechen, liegt die Vermutung nahe, dass ich morgen mehr wiegen werde.

Anna ist nach Hause gekommen, heute abend aber mit Finola ausgegangen.

Ich fürchte mein morgiges Gewicht.

7. Juli 1981

Laune: gemischt gut/schlecht Gewicht:

Frühstück: …

Mittagessen: …

Abendessen: …

Fressgelage: …

Abführmittel: Ca. …

Anmerkungen: Mein Fressgelage dauerte den ganzen Abend an. Als Vati und Mutti nach Hause kamen, war ich immer noch nicht fertig. Ich habe nicht das Gefühl, dass es mir gelungen wäre, alles herauszubrechen. Wie wird demnach mein morgiges Gewicht sein?

23. Juli 1981

Laune: mäßig Gewicht: …

Frühstück: …

Mittagessen: …

Abendessen: …

Fressgelage: …

Abführmittel: Ca. …

Anmerkungen: Vati war heute abend nicht da. Ich habe gefressen und fühle mich schlecht und kann nicht weinen, um mich zu erleichtern.

Nachdem Catherine sechs Monate gearbeitet hatte, begann sich ihr körperlicher Zustand im Oktober 1981 weiter zu verschlechtern. Sie hatte starke Rückenschmerzen im Lendenwirbelbereich und fühlte sich insgesamt sehr schlecht. Sie lehnte es jedoch ab, einen Arzt aufzusuchen. Ihr standen zwei Wochen Urlaub zu, auf den sie sich schon lange gefreut hatte. Als Geschenk zu ihrem 21. Geburtstag hatte John ihr eine Woche in Venedig und Florenz versprochen. Sie bat mich, sie zu begleiten. Wir hatten vor, in der zweiten Woche drei oder vier Tage in Paris zu verbringen, eine Stadt, die sie über alles liebte. Ich versuchte sie zu überreden, vor unserer Abreise einen Arzt aufzusuchen und ihre Blutwerte überprüfen zu lassen; wenn die Ergebnisse in Ordnung waren, würden wir fahren. Sie lehnte es ab. Simon - der wusste, was mit dem Körper geschieht, wenn er extremem Gewichtsverlust ausgesetzt ist - machte sich noch größere Sorgen. Schließlich willigte sie ein, sich von ihm Blut abnehmen zu lassen, das er dann in "seinem" Krankenhaus untersuchen lassen wollte.

Eines Tages, als niemand sonst da war, ging er zu ihr ins Büro und nahm eine Blutprobe ab. Catherine war sehr beeindruckt, da es bisher niemandem gelungen war, diese Prozedur problemlos abzuwickeln. Durch ihr starkes Untergewicht klebten ihre Venen leicht zusammen, so dass es bis zu einer Stunde dauern konnte, bis die notwendige Blutmenge abgezapft war. Simon war es dagegen in ein oder zwei Minuten gelungen! Die Proben wurden untersucht; obwohl Catherines Blutwerte niedrig waren, schienen sie nicht bedrohlich zu sein. Die Reise konnte losgehen.

Venedig ist eine meiner bevorzugten Städte, und es war mir eine große Freude, sie Catherine zeigen zu können. Das Wetter war zwar frisch, aber ideal zum Sightseeing. Wir wohnten in einem kleinen Hotel, nur zehn Minuten vom St. Markus-Platz entfernt. Unsere Zimmer lagen unterm Dach, und es fiel Catherine schwer, die vielen Treppen hinaufzusteigen. Wir aßen alle Mahlzeiten in unserem Hotel; das war für sie weniger qualvoll, weil das Essen vor sie hingestellt wurde. Sie tat so, als würde sie essen. In Wirklichkeit aber packte sie das Essen in eine Plastiktüte, die sie unter der Serviette auf ihrem Schoß versteckte. Sie war Expertin darin, und selbst jemand, der sie genau beobachtete, konnte sie kaum dabei erwischen.

Sie sog die Schönheit Venedigs in sich auf, die Architektur, die Museen, die Geschäfte und die besondere Atmosphäre dieser Stadt. Unser Aufenthalt dort war ein voller Erfolg; der Tagesablauf hatte sich trotz allem nicht zu sehr von zu Hause unterschieden, so dass sie sich gut darin einfinden konnte. Als unsere drei Tage in Venedig vorbei waren, fuhren wir mit dem Zug nach Florenz. Die Reise durchbrach ihren Rhythmus, so dass sie aufgeregt, hektisch und damit körperlich geschwächt wurde. Das Hotel in Florenz war nur garni. Ich dachte zunächst, dass dies für Catherine besser sei. Aber die Entscheidung darüber, wo und was wir essen sollten, war (auch wenn sie nur ein paar Krümelchen schlucken würde) eine Qual. Sie bestand darauf, in unzählige Cafes zu gehen und sich ihre Kuchen- und Gebäckauswahl anzusehen. Am zweiten Tag entschied sie, dass sie zu Mittag ein Stückchen essen musste. Und wenn sie nicht genau das fand, was sie wollte, wurde die Jagd fortgesetzt, manchmal bis zu zwei Stunden lang. Wenn wir dann schließlich fanden, was sie wollte, konnte sie damit nicht umgehen und brach unter Tränen zusammen. Auf unserem Weg zurück ins Hotel entschuldigte sie sich immer wieder und bat mich um Verständnis. Eines Abends schlug ich vor, dass sie sich sofort entscheiden solle, wo wir die restliche Zeit in Florenz regelmäßig essen würden. Sie wollte es versuchen. Dementsprechend wurden die noch verbleibenden Tage einfacher und angenehmer, obwohl ich mir immer größere Sorgen um ihren körperlichen Zustand machte und fürchtete, sie würde zusammenbrechen, bevor wir nach Hause zurückfuhren. Die Reise nach Paris war gestorben; Catherine hätte sie unter keinen Umständen durchhalten können - sie war sehr krank und gab es sogar zu.

Simon hatte mit einem seiner Professoren über Catherine gesprochen; der versprach, sie zu untersuchen, sobald sie dazu bereit sei. Zwei Tage nach unserer Rückkehr aus Italien erklärte Catherine, dass sie den Professor aufsuchen wolle. Er untersuchte sie noch am selben Tag und verbrachte mindestens zwei Stunden damit, sie zu überreden, doch im Krankenhaus zu bleiben. Sie sagte, sie wolle nach Hause gehen, es sich überlegen und vermutlich am darauf folgenden Tag wiederkommen. Er und ich wussten gleichermaßen, dass sie, wenn sie das Krankenhaus erst einmal verlassen hatte, nicht zurückkehren würde - und wir sollten Recht behalten. Er schrieb ihr, um ihr die dringende Notwendigkeit einer Behandlung klarzumachen, aber nichts konnte sie dazu bringen, ins Krankenhaus zu gehen. Sie musste ihre Arbeit kündigen, da sie nicht einmal mehr die Kraft hatte, auch nur einen Zug zu besteigen. Etwa zu diesem Zeitpunkt beschloss sie, dass sie nicht länger leben wollte; sie sprach immerzu vom Tod als der einzigen Möglichkeit, sie von der Magersucht zu befreien. Sie erzählte mir, dass sie inzwischen von … Abführtabletten am Tag abhängig sei. Das Fress-Syndrom war wieder aufgetreten; sie fürchtete und hasste es. Sie litt an Momenten von Besinnungslosigkeit und Ekel und Hassgefühlen sich selbst gegenüber. Die Qualen und Agonie, die sie durchlitt, sind unbeschreiblich.

Catherines Tagebuch

Montag, 4. Januar 1982

Heute morgen bin ich um 6 Uhr 15 aufgewacht und habe dann mein übliches Ritual - Aufstehen, Frühstücken und Zeitung lesen - vollzogen. Ich hatte mich wirklich darauf eingestellt, heute ins Krankenhaus zu gehen. Ich hatte alles vorbereitet, und alle waren so großartig zu mir, um mir dabei zu helfen. Heute abend habe ich schreckliche Angst, weil ich nicht gegangen bin und auch nicht mehr die Nerven habe, zu gehen.

Wenn ich doch nur nicht mit dem Rauchen angefangen hätte! Aber ich hätte es auch nicht leichter wieder aufgeben können als meine Abführtabletten, Kitkats, meine Gewohnheiten und meine Freiheit. Das Schlimmste aber ist, dass ich tief drinnen weiß, dass ich niemals in der Lage sein werde, etwas zu essen oder zuzunehmen. Wenn ich gegangen wäre, hätte ich es aber zumindest versucht. Ich sehe schon, wie alles jetzt weitergehen wird. Vati wird nie lächeln oder irgendetwas tun, um mich aufzuheitern. Er wird mich unter Druck setzen, und ich kann mich dem nicht stellen. Wenn er doch nur verstehen könnte, dass es wirklich nicht meine freie Entscheidung ist, zu sterben, sondern dass ich mich in einer Falle befinde. Ich kann einfach nicht vergessen, dass ich nie essen und zunehmen können werde. Ich versuche nur, mich selbst zu belügen.

Ich fühle mich so egoistisch nach allem, was für mich getan worden ist. Ich werde mich jetzt zurückziehen und in meinem Zimmer leben, den Tee hier trinken und kein Abendessen kochen. Ich möchte niemandem mehr zur Last fallen oder stören. Schließlich habe ich schon in der Vergangenheit viele Probleme verursacht. Je mehr ich den anderen aus dem Weg gehe, desto besser wird es für alle Betroffenen sein. Ich habe beschlossen, mein Essen zu reduzieren.

Ich bete, dass ich die nächsten zwei Monate nicht mehr erlebe, sondern möglichst bald sterbe. Ich weiß, dass ich im Moment sehr egoistisch bin - und ein Angsthase noch dazu. je früher ich gehe, um so besser. Ich kann mit den Schuldgefühlen, die ich im Moment habe, nicht leben. Ich hatte wirklich die Absicht, ins Krankenhaus zu gehen, ehrlich, und wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe und die Dinge entwickeln sich dann anders, ist es einfach zuviel für mich. Heute wird mir zum ersten Mal klar, dass der Tod unvermeidbar ist. Ich fühle mich hilflos und gefangen.

Mittwoch, 6. Januar 1982

Ich bin um 7 Uhr 15 aufgewacht und mit einem Satz aus dem Bett gehüpft und nach unten gesaust, weil ich fürchtete, dass mein Frühstück mit Vatis Aufbruch zur Arbeit zusammenfallen könnte. Ich habe einen Dankbrief von Oma bekommen. Ich hab' ein schlechtes Gewissen, weil ich im Augenblick niemandem schreiben kann. Ich weiß einfach nicht, wie ich mich konzentrieren soll. Mein Kopf fühlt sich taub an; ich habe mich heute wie eine Strohpuppe gefühlt, die ihre Füllung verloren hat. Ich kann nicht mit der Veränderung meiner Diät umgehen. Ich weiß tief in meinem Herzen, dass ich sterben werde. Das Krankenhaus wird mir nicht helfen, ich kann es einfach nicht ertragen, von zu Hause fortzugehen. Ich bete einfach, dass ich in Ruhe sterben kann. Ich möchte von niemandem mehr unter Druck gesetzt werden, es wühlt mich so auf, dass ich nicht mehr weiß, wie ich mich drehen und wenden soll.

Samstag, 16. Januar 1982

Heute war der schlimmste Tag seit langem. Morgens bin ich nach Croydon gefahren, Mutti hat mich hingebracht. Ich habe mir einen Bademantel und ein paar Zeitschriften gekauft und bin dann nach Hause gekommen. Dieser Ausflug hat mich durcheinandergebracht, weil er nicht üblich war. Nachmittags befand ich mich in geistiger Agonie. Ich wollte einfach nur essen und mich übergeben. Fressen ist die einzige Art und Weise, wie ich einerseits zwar in meiner Welt bleiben, andererseits aber auch Essen herunterbringen kann und mich so von allem, insbesondere von meinen Problemen, ablenken kann. Zu erbrechen verbraucht alle meine geistigen und körperlichen Energien. Manchmal bin ich danach hyperaktiv. Heute allerdings war ich danach einfach matt. Ich bin so unruhig und unglücklich, dass ich einfach nicht mehr weitermachen kann. Ich weiß nicht, was passieren wird. Ich weiß nur, dass ich mich einem Krankenhausaufenthalt nicht mehr stellen kann.

Mittwoch, 27. Januar 1982

Ich habe mich nie so schlecht und niedergeschlagen gefühlt wie heute. Ich bin gefangen. Um meiner Familie willen möchte ich leben, aber ich halte es mit mir selbst nicht aus. Anna war so lieb heute abend, sie kam und hat sich zu mir gesetzt und mich einfach nur gestreichelt. Das hat mir geholfen. Vati war auch sehr lieb und Mutti wie immer ein Ausbund an Stärke. Pfarrer Taggart kam und hat mit mir gebetet.

Ich wache nachts immer wieder auf - ich habe Alpträume von Eindringlingen in unserem Haus. Oh, ich brauche die Hilfe und Liebe zu Hause, und ich bekomme sie, aber ich kann nicht anders, als mich trotzdem schlecht zu fühlen.

Die Gewohnheit war ihr von größter Wichtigkeit. Sie stand frühmorgens auf, und auch wenn die Anstrengung beim Aufstehen jeden Tag größer wurde, zwang sie sich dazu. Sie badete jeden Tag zur gleichen Zeit. Ihr Zimmer, das sie unbedingt selbst saubermachen wollte, wurde jeden Tag gründlich gereinigt - ebenfalls immer zur selben Zeit. Wenn sie etwas anzog, eine Bluse zum Beispiel, nur für zwei oder drei Stunden, so musste sie gewaschen werden. Ihr Essen - oder sollte ich lieber sagen ihr Nippen am Essen - geschah dreimal täglich, jedes Mal pünktlich zur gleichen Zeit. Ihre Essmarotten umfassten damals Wurstbrötchen, Gebäck und Kitkats; dazu trank sie schwarzen Kaffee. Wenn sie aus irgendeinem Grund fünf Minuten zu spät mit ihrer sogenannten "Mahlzeit" anfing, geriet sie in Panik, weinte und konnte sie dann oft nicht anrühren.

Wenn das geschah, versuchte sie, einen neuen Fimmel zu entwickeln, was manchmal mehrere Tage in Anspruch nahm. In der Zwischenzeit nahm sie außer Kaffee überhaupt nichts zu sich. All das dauerte ungefähr fünf Monate - Monate, in denen ich nicht wusste, ob sie am folgenden Tag noch am Leben sein würde. In dieser Zeit besuchte uns unsere Hausärztin, Dr. Margaret Foot, regelmäßig. Sie war die einzige Ärztin, die zu sehen Catherine bereit  war. Catherine war stets allein mit Dr. Foot, erzählte mir aber grundsätzlich im weiteren Tagesverlauf, worüber sie gesprochen hatten. Es entwickelte sich eine Art Freundschaft zwischen den beiden, und Catherine liebte sie und vertraute ihr. Dr. Foot sagte mir, wir könnten sie jederzeit anrufen, wenn Catherine oder ich das Bedürfnis hätten, mit ihr zu sprechen, oder falls sich ein Notfall ereignete. Diese Unterstützung gab mir immer wieder viel Kraft.

Catherines Tagebuch

Sonntag, 31. Januar 1982

... Anna war so lieb und hat mir gesagt: "Lass gut sein, Catherine, du kannst nichts dafür, dass du so bist." Ich habe Richard gesagt, wie sehr ich ihn liebe, auch wenn ich es ihm vielleicht nicht zeige. Ich wollte ihm das schon längst einmal gesagt haben.

Freitag, 5. Februar 1982

... Ich habe mich bei Anna ausgeweint, als sie hereinkam. Simon und Jenny sind vorbeigekommen und haben mir einen wunderschönen Blumenstrauß mitgebracht. Diese Gesten bedeuten mir mehr als alles andere.

Mittwoch, 11. Februar 1982

... Oh, Jesus, hilf mir. Ich kann nichts tun. Ich bin meines Lebens müde. Bitte tue, was Du für richtig hältst.

Montag, 21. Februar 1982

Da Vati fort ist, kann ich die ganze Woche liegen bleiben. Heute früh war ich ziemlich aufgedreht, weil ich mich darauf gefreut habe, mit Dr. Foot reden zu können. Es ist mir eine solche Erleichterung. Sie hat mein Herz untersucht; sein Zustand ist unverändert. Es erstaunt mich, dass ich noch lebe, denn wenn ich mich vom medizinischen Standpunkt aus betrachte, scheint es fast unmöglich, dass mein Körper immer noch funktioniert. Sie sagt, dass es eine Frage der Willensstärke sei. Die Tatsache, dass ich immer noch die Hoffnung habe, eines Tages wie durch ein Wunder die Behandlung durchzuziehen, erhält mich am Leben. Sie hat mir ein Rezept für ein paar Antidepressiva gegeben ...

Meine Gefühle entsprachen zu diesem Zeitpunkt einer Mischung aus Wut, Mitleid, Liebe und der Entschlossenheit, dass Catherine nicht sterben dürfe. Es gab Momente, in denen ich so sehr litt, dass ich es nicht ertragen konnte und Gott bat, sie zu sich zu nehmen. Dies hielt jedoch nie mehr als ein paar Minuten vor. Immer wieder hatte ich das Gefühl, Catherine meinen Wunsch, dass sie leben solle, einflößen zu müssen. Ich sagte ihr dann: "Catherine, es lohnt sich, zu leben, auch wenn es schwer ist. Wir leben doch nur eine so kurze Zeit. Versuche es.

Ihre Antwort lautete stets: "Wenn ich es könnte, würde ich es dir zuliebe tun." Manchmal brach ich zusammen, und sie tröstete mich. Simon und Richard kamen jedes Wochenende nach Hause. Ich erinnere mich daran, dass meine Mutter einmal zu Simon sagte: "Du besuchst mich überhaupt nicht mehr", und Simon antwortete: "Nein, Oma. Mutti braucht mich, ich muss so oft wie möglich nach Hause fahren. "

Simon lernte für sein Pathologieexamen. Ich besuchte ihn kurz vor dem Prüfungstermin - voll gepackt mit vorgekochten und eingefrorenen Mahlzeiten, da ich sichergehen wollte, dass er anständig aß. Wir sprachen von Catherine. Eine Zeitlang hatte er Catherine für starrsinnig und merkwürdig gehalten; jetzt war ihm die Ernsthaftigkeit ihrer Krankheit deutlich geworden. Er brach völlig zusammen; es war das erste Mal, dass ich ihn aufgrund seiner Schwester zusammenbrechen sah. Er bat mich, etwas für Catherine zu kaufen. Als ich mich weigerte, sein Geld anzunehmen, sagte er: "Ich habe viel Geld gespart, weil du mir all das hier gebracht hast. Ich möchte, dass Catherine etwas von mir bekommt." Ich glaube, er wollte Catherine einfach nur zeigen, wie sehr er sie liebte.

Catherines Tagebuch

Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Ich möchte glücklich sein, damit mein Wille und meine Hoffnung auf ein Wunder am Leben bleiben. Ich habe es sehr nötig, von Liebe überflutet zu werden ...

Montag, 1. März 1982

Ich habe mich heute sehr niedergeschlagen gefühlt. Als Dr. Foot kam, wollte ich am liebsten in Tränen ausbrechen. Ich konnte mich einfach nicht öffnen und reden. Und als sie gegangen war, hätte ich's mir so sehr gewünscht, dass sie zurückkommen möge, damit ich mich bei ihr aussprechen könnte ... Ich weiß, dass ich jetzt noch nicht sterben werde, ich weiß es einfach, und dabei möchte ich es so unbedingt. Ich kann mich dem Gedanken ans Krankenhaus nicht stellen, aber wieviel länger kann ich diese Form der Existenz noch fortführen? Nach dem Mittagessen hatte ich einen langen Plausch mit Mutti. Das erleichterte mich ein wenig. Heute abend habe ich mich einfach eingeschlossen und gefressen. Ich war so gegen 0 Uhr 30 fertig und habe danach noch Kilo gewogen. Gegen 1 Uhr 30 bin ich ins Bett gegangen.

Catherine war von ihrer Absicht, keinen Psychiater mehr aufzusuchen, nicht abzubringen. Aber im Januar 1982 konnte Dr. Foot sie dazu überreden, einen beratenden Arzt hinzuzuziehen. Er kam zu uns nach Hause. Catherine mochte ihn auf Anhieb, verweigerte aber jegliche Behandlung. Nach einigen Wochen überredeten Dr. Foot und ihr Assistent Catherine schließlich dazu, ins Krankenhaus zu gehen; sie sollte diesmal ein Zimmer in einem Seitenflügel eines privaten, von Schwestern geleiteten Krankenhauses bekommen, obwohl die Mehrheit der Patienten dort Dauerpatienten waren. Trotz der Liebe, Fürsorge und Freundlichkeit, die Catherine entgegengebracht wurden, verweigerte sie eine Behandlung. Innerhalb von zwei oder drei Tagen hatte sie ihre Gewohnheiten der Situation angepasst. Die wichtigsten Zeiten waren, wenn sie das Mittag‑- oder Abendessen von der Karte auswählte. Sie kreuzte an, was sie wollte, und fügte fast immer einige Anmerkungen darüber bei, wie das Essen gekocht werden sollte.. Sie bat sogar darum, den Küchenchef zu sprechen, um ihm einige ihrer Probleme zu erklären.

Catherines Tagebuch

Montag, 5. April 1982

Ich bin so gegen 14 Uhr 45 in Begleitung von Mutti und Vati im St. Anton-Krankenhaus angekommen. Wir wurden sehr herzlich empfangen; es ist wirklich eine sehr hübsche Klinik. Ich habe mein eigenes Zimmer mit angrenzender Dusche und Toilette, einen fernbedienbaren Fernseher, Radio und ein elektrisch gesteuertes Bett. Das Personal ist sehr nett und herzlich. Ich fühle mich nicht interniert oder wie in einem Krankenhaus. Zum Abendessen gab es gebratenes Schollenfilet mit gemischtem Gemüse, gefolgt von Käse, Keksen und einer Tasse Tee mit meinem Kitkat. Mutti, Richard und Anna sind heute abend vorbeigekommen. Ich habe gegen 21 Uhr etwas Fleischbrühe getrunken, und dann um 21 Uhr 30 noch zwei Kitkat mit Tee. Ich habe gebadet und dann einfach noch etwas herumgetrödelt, bevor ich ins Bett gegangen bin.

Der Arzt kam um 7 Uhr 30 zur Visite; ich fühlte mich sehr wohl mit ihm. Er hat mir etwas Valium verschrieben und noch ein paar andere Tabletten. Morgen will er mich außerdem an eine EKG‑-Maschine anschließen und noch einige andere Tests machen. Um 15 Uhr 30, eine dreiviertel Stunde nach meinem Mittagessen, habe ich Kilo gewogen.

Jeden Morgen schrieb sie sich einen Terminplan für den Tag, dem alles genau zu entsprechen hatte. Wenn die Krankenschwester sich mit der Medizin auch nur um eine Minute verspätete, wurde sie sauer und klingelte, um sie daran zu erinnern. Freunde mussten ihr oder mir vorher Bescheid sagen, wann sie sie besuchen wollten; wenn sie sich im geringsten verspäteten, wurde Catherine unruhig und nervös. Es fiel ihr sehr schwer, Besuch zu empfangen, so dass sie normalerweise nur von engsten Familienmitgliedern und Menschen, zu denen sie eine besonders enge Beziehung hatte, besucht wurde. Ich ging meist um 10 Uhr morgens zu Hause weg und blieb bis 16 Uhr bei ihr - mit Ausnahme des Mittagessens, das sie alleine zu sich nahm. Zu diesem Zeitpunkt durfte sie niemand, nicht einmal ich, beim Essen sehen. Sie war inzwischen spezialisiert darauf, auf dem Essen herumzukauen, aber niemals etwas Festes herunterzuschlucken. Hier, im Krankenhaus, sah sie keine Notwendigkeit für Plastiktüten - sie spuckte das zerkaute Essen ganz einfach wieder auf ihren Teller. Bevor das Tablett wieder abgeräumt wurde, legte sie ganz einfach den Aluminiumdeckel, der das Essen zunächst warm halten sollte, wieder darüber. Ich versuchte alles in meiner Macht Stehende, um sie zur Zwangsernährung zu überreden. (Dabei wird ein kleiner Schlauch durch Nase und Hals geführt, durch den dann die in einer Flasche gespeicherte Nährlösung direkt in den Magen gelangt. Es ist nicht so unangenehm, wie es klingt.) Ich glaubte, dass sie dann langsamer zunehmen und dass dies dann für sie weniger dramatisch sein würde als die vorherigen Behandlungen im Krankenhaus. Intravenöse Ernährung wird über einen Tropf direkt in eine Vene geführt, wurde aber für Catherine nie in Erwägung gezogen, da sie sich ganz einfach vom Tropf losgemacht hätte. Außerdem barg ihr schlechter körperlicher Zustand eine zu große Infektionsgefahr in sich. Ihr Arzt, dem sie volles Vertrauen entgegenbrachte, fügte sich mit großer Geduld in seine Rolle ein und versuchte ebenfalls, sie für die Idee der Ernährung durch einen Schlauch zu gewinnen. Sie sagte stets, sie wolle darüber nachdenken. Und manchmal war sie fast soweit, zuzustimmen - aber leider hat sie es nie getan.

Simon und Jenny, eine Kommilitonin aus dem Medizinstudium, wollten im Juni, neun Wochen nach Catherines Einweisung ins Krankenhaus, heiraten. Catherine freute sich auf die Hochzeit und war voll und ganz mit ihrer zukünftigen Schwägerin einverstanden. Am Anfang konnte Jenny mit den Wahnvorstellungen der magersüchtigen Catherine nur schwer umgehen. Es schien ein so lächerliches Phänomen zu sein, und es war ihr völlig rätselhaft, wie jemand nicht gern essen konnte. Sie hatte auch den Eindruck, dass es völlig inadäquat war, dass sich jemand wie Catherine "zu Tode hungern  wollte", während viele junge Menschen tatsächlich mit dem Tode rangen. Nach und nach entdeckte sie jedoch das liebevolle und großzügige Wesen Catherines, das sich hinter der egoistischen und entschlossenen, magersüchtigen Seite ihres Charakters verbarg.

Catherines Tagebuch

Donnerstag, 6. Mai 1982

Ich habe heute nacht nicht allzu gut geschlafen. Alles verlief heute morgen nach Plan. Der Arzt kam um 10 Uhr zur Visite, und wir haben über die Ernährung durch einen Schlauch gesprochen. Ich war heute früh sehr ruhig und sanft. Tief in mir drin weiß ich genau, dass ich niemals ohne fremde Hilfe wieder essen werde und dass die Ernährung durch einen Schlauch insofern die einzige Möglichkeit ist, zu überleben, aber es wird noch eine oder zwei Wochen dauern, bevor ich damit beginnen kann. Ich weiß, dass ich es nur akzeptieren werde, wenn ich mich bereit dazu fühle. Ich habe das dem Arzt erklärt. Er sagte, mein Herz würde durchhalten, solange ich dort bliebe. Er macht sich allerdings Sorgen um den elektrolytischen Haushalt meines Körpers. Ich habe vor dem Mittagessen kräftig gestrickt. Das Mittagessen kam etwas verspätet, und ich wurde sehr nervös. Nach dem Essen war ich ganz zittrig. Liz kam um 13 Uhr 40. Es war mir sehr peinlich, dass sie mich in diesem Zustand sah. Ich hatte das Gefühl, dass ich ihren freien Tag versaut hatte. Jane hat heute abend angerufen und angekündigt, dass sie mich, sofern es mir besser gehe, am Wochenende besuchen wolle. Sie wird es nicht mögen, dass ich ihr kein Datum für den Beginn der Ernährung per Schlauch geben kann. Ich schätze, es wird mindestens zwei oder drei Wochen dauern, aber es ist besser so als zu beginnen, bevor ich dazu bereit bin. Es ist mein geistiger Zustand - ich kann förmlich spüren, wie mein Körper jetzt aufgibt. Für mich weiß ich, dass die Zeit ausläuft.

Mittwoch, 12. Mai 1982

Noch einmal schreibe ich in mein Tagebuch. Es ist einige Tage her, seitdem ich zuletzt etwas notiert habe, aber ich war sehr niedergeschlagen. Ich werde nicht sterben, sondern einfach hier sitzen bleiben, bis das Geld nicht mehr reicht.

Ich schaue zurück und sehe, wie wenig Fortschritte ich gemacht habe, und weiß, dass ich nicht nach Hause kann, bevor es mir wieder gut geht. Ich habe Mutti gebeten, den Arzt vor seiner Visite morgen anzurufen und ihm genau zu erklären, wie ich mich fühle. Ich weiß einfach nicht mehr, was ich noch machen oder wohin ich mich noch wenden soll. Ich kann die Tür zum Leben nicht öffnen ...

Die Hochzeit war Catherine wichtig und hielt sie am Leben, obwohl sie das Gefühl hatte, dass sie selbst nicht daran teilnehmen konnte, der Gedanke an so viele Menschen erschreckte sie. Dann, nur eine Woche vor der Hochzeit, sagte mir Catherine, dass sie als eine der Brautjungfern dabei sein wolle! Beide Familien waren sehr betroffen; wir wollten auf keinen Fall, dass irgend etwas Jennys und Simons Tag verdarb; und Catherine war in ihrem Zustand nicht nur extrem schwach, sondern auch zügellos. Ich wusste, dass Catherine, wenn sie es sich erst einmal in den Kopf gesetzt hatte, ihre Aufgabe erfolgreich erfüllen würde. Es spricht sehr für Jennys Verständnis und ihre Großzügigkeit, dass sie einwilligte. Catherine wollte nur an der kirchlichen Trauung teilnehmen; sie wusste wie wir alle, dass das das einzige war, was sie schaffen konnte.

So wurde sie dann am 5. Juni, einem schönen, warmen und sonnigen Tag, von zwei jungen Freunden abgeholt - einer von ihnen hatte gerade erst sein 3. Staatsexamen als Arzt bestanden - und zu Jennys etwa 60 Kilometer entferntes Zuhause gebracht, wo ich auf sie wartete, um ihr zu helfen, sich für den großen Tag anzukleiden. Sie war sehr schwierig und launisch. Ich erinnere mich, dass sie ständig auf mich einredete, damit ich sie nicht ins Krankenhaus zurückschickte. Als sie fertig war, traf sie auf die anderen Brautjungfern, Jennys drei Schwestern und Anna. Der Traugottesdienst verlief ohne Zwischenfall, Catherine weinte jedoch die ganze Zeit still vor sich hin. Sie war voller gemischter Gefühle - Trauer darüber, dass sie nicht voll an den Festlichkeiten und dem Leben selbst beteiligt sein konnte, und Freude darüber, ihren Bruder heiraten zu sehen. Nachdem der Gottesdienst vorüber und die Fotos - einschließlich einiger Polaroidfotos, die sie den Krankenschwestern zeigen wollte - geschossen worden waren, brachten sie die beiden Freunde freundlicherweise auch wieder zurück.

Von dem Moment an, als sie wieder in ihrem Krankenhauszimmer saß, zog sie sich völlig in sich selbst zurück. Das Kleid und die Fotos, die zu zeigen sie den Schwestern versprochen hatte, wurden versteckt.

Das Ereignis, das sie so viele Monate sehnsüchtig erwartet hatte, war  vorüber. jetzt war sie entschlossen zu sterben. Ihr Zustand wurde körperlich wie geistig schlechter. Weniger als zwei Wochen nach der Hochzeit wurden John und ich nachts um 3 Uhr 40 angerufen - Catherine schien zu sterben. Innerhalb von zwanzig Minuten waren wir dort. Noch bevor John den Wagen richtig zum Stehen gebracht hatte, war ich herausgesprungen und durch die Glastüre in die Klinik geeilt. Ich lief in ihr Zimmer, setzte mich neben sie und legte meinen Kopf neben den ihren auf das Kissen. "Catherine", flüsterte ich, "ich bin es, Mutti." Ich wollte, dass sie lebte, gesund würde; ich betete, wie ich noch nie zuvor gebetet hatte. Langsam legte sich ihr Arm um meinen Nacken. Sie konnte sich hinterher an nichts mehr erinnern - und dennoch bin ich sicher, dass sie spürte, dass ich bei ihr war. Der Arzt kam und nahm sich ihrer an. John und ich warteten im angrenzenden Zimmer, während er Catherine untersuchte und ihr schließlich einen Schlauch durch die Nase und den Hals in den Magen einführte. Ab jetzt wurde sie durch den Schlauch ernährt.

Ich weiß nicht mehr, wieviel Zeit verging, bevor sie wieder das Bewusstsein erlangte. Aber als es schließlich soweit war, geriet sie sofort in Panik, weil der schon so lange gefürchtete Schlauch eingeführt worden war. Mit langsamen, aber entschiedenen Bewegungen löste sie das Pflaster, das den Schlauch an ihrer Nase festhielt, und zog den Schlauch heraus. Ich raste aus dem Zimmer und rief den Arzt. Aber nichts, was er oder ich sagten oder taten, konnte Catherine überzeugen, sich auf diese Weise ernähren zu lassen. Ich blieb neun Tage und Nächte bei Catherine im Krankenhaus; niemand glaubte, dass sie durchhalten würde, aber sie schaffte es. Sie wog jetzt noch ungefähr … Kilo.

Kapitel 5

Nach und nach fand Catherine ihre geistigen Energien wieder, aber sie war jetzt noch launischer und depressiver, noch fordernder und schwieriger als jemals zuvor.

Wenn es ihr am schlechtesten ging, behauptete sie, dass sie von einer "bösen Kraft" umgeben sei. Sie hatte dann große Angst und bat mich, mit ihr zu beten. Diese Gebete gaben Catherine nach und nach ihre innere Ruhe wieder, aber sie lebte in ständiger Angst vor einem nächsten Angriff "des Bösen".

Ursprünglich hatte Catherines Bulimie als Ventil für ihre aufgestauten Ängste fungiert, jetzt aber fürchtete sie diese mehr als alles andere.

Wenn ihr Verlangen zu fressen am größten war, ging sie sehr weit, um ihr Ziel zu erreichen. Sie rief zum Beispiel eines der örtlichen Taxiunternehmen an, gab ihnen eine lange Einkaufsliste für Lebensmittel (und Abführmittel!) und bat dann, dass es ihr ins Krankenhaus gebracht werden möge. Dies ging ein paar Mal gut, bis die diensthabende Schwester entdeckte, was geschah. Am schlimmsten war die Zeit um das Abendessen herum, wenn die Gier sie regelmäßig erfasste.

Manchmal rief sie mich an und bettelte, ich solle so schnell wie möglich zu ihr kommen, da der Teufel bei ihr sei. Wenn ich dann ankam, saß sie bleich und zitternd auf ihrem Bett. Ich nahm sie in meine Arme, und wir beteten gemeinsam. Langsam beruhigte sie sich und fühlte sich stark genug, um dem zwanghaften Bedürfnis zu fressen zu widerstehen. Oder aber sie rief Schwester Marie McLoughlin an, eine gute Freundin und ehemalige Lehrerin Catherines, und Marie betete mit ihr am Telefon. Natürlich gab es auch Zeiten, zu denen es Catherine völlig unmöglich war, diesem "Monster" zu widerstehen, und es war erschreckend, in diesen Momenten ihre Verzweiflung und ihren Ekel vor sich selbst zu beobachten. Zu guter Letzt war Catherine in der Lage, selbst mit diesem "Teufel" fertig zu werden, was sie in erster Linie der Stärke und dem Mut verdankte, die Marie ihr durch die Gebete zu vermitteln vermochte. Marie beschrieb ihren ersten Besuch bei Catherine im St. Antons-Krankenhaus folgendermaßen:

Wir fuhren auf den Parkplatz des Krankenhauses, und Hugo, Catherines wohlerzogener Golden Retriever, wurde auf den Rasen vor das Erdgeschoßfenster gesetzt, durch das er Catherine sehen konnte. Wir mussten aufpassen und das Fenster geschlossen halten, weil er bei einer früheren Gelegenheit einen großen Satz gemacht hatte und am Fuße ihres Bettes gelandet war! Dann gingen wir hinein. Catherine sah wie ein Skelett aus, dem man eine gelbe Haut übergezogen hatte. Aber ihr Haar war immer noch schön, und ihre Augen, obwohl sie in tiefen Höhlen lagen, waren immer noch tief und sanft. Maureen und Anna küssten sie herzlich; sie begann mit ihrer hohen Stimme, die fast ein Flüstern war, sofort von Besuchern zu erzählen, die unangekündigt vorbeigekommen waren. Sie war sehr aufgebracht, und es dauerte eine Weile, bis Maureen sie wieder beruhigt hatte. Catherine saß auf einer Seite des Bettes, ihre Mutter daneben; ich stand wartend auf der anderen Seite ‑- sie nahm mich kaum wahr. Das gab mir einen Moment Zeit, um mich selbst in den Griff zu bekommen. Der Schock wurde nicht allein durch ihr Aussehen und Benehmen, sondern auch durch das Gefühl, einem unnatürlichen Tod so nahe zu sein, bestimmt. "Ich habe hier Herzschmerzen", sagte Catherine und drückte auf eine Stelle ihres dürren Körpers. "Da ist ein Loch in meinem Herzen." Sie erklärte, dass sie sich durch die Liebe ihrer Mutter und ihrer Schwester so lang erwärmt fühle, wie diese anwesend seien, dass aber, kaum dass sie gegangen seien, die ganze Liebe aus einem Loch herausgelange und sie von einer schrecklichen Vereinsamung ergriffen werde. Catherine nahm mich immer noch kaum zur Kenntnis, aber an dieser Stelle schaltete ich mich ein. "Darf ich dich umarmen?" fragte ich, und als Antwort ließ sie ihren kleinen Körper mit dem Vertrauen eines Babys gegen mich sinken. "Wir werden Jesus bitten, das Loch zu stopfen", war alles, was ich sagte. Ich muss sie ungefähr eine halbe Stunde lang im Arm gehalten haben, ohne dass jemand etwas gesagt hätte - abgesehen davon, dass ich leise vor mich hinbetete und Maureen und Anna mitbeteten. Alles war sehr still, bis Catherine die Frage stellte, auf die ihre Familie schon wartete und mit der auch ich in der kommenden Zeit noch vertraut werden sollte. "Schwester, glauben Sie, dass Jesus mich bald zu sich nehmen wird?"

Es schien so, als ob ihr ganzes Denken immer um den Gedanken an ihren Tod kreiste. Sie sehnte sich nach nichts anderem mehr und quälte sich voller Verzweiflung, weil sie immer noch lebte. "Ich habe keine Antwort darauf“, sagte ich. Dann, nachdem wir uns noch etwas unterhalten hatten, fuhren wir nach Hause. Am nächsten Tag erklärte Catherine ihrer Mutter: "Das Loch in meinem Herzen ist zugeheilt." Nun konnte sie ein wenig von der Liebe, die ihr zuteil wurde, in sich bewahren. Ein kleiner Funken Glück war in ihr Leben getreten. Etwa eine Woche nach meinem ersten Besuch verlangte Catherine wieder nach mir. Glücklicherweise gelang es mir, mich dann freizumachen, wenn sie es wollte, denn ich wusste ja, welche Überwindung es sie kostete. Körperlich, insbesondere aber seelisch, verspürte sie den Zwang, alles und jeden unter Kontrolle zu haken. Dann war sie "Sicher" und konnte "bekommen", was immer sie brauchte. Sie musste sich zwingen, mich zu fragen, ob ich kommen könnte. Aber in der damaligen Situation beschloss ich, dieses Beherrschen voll zu akzeptieren. Das, zusammen mit ihren anderen Zwängen, war nur ihre Art, den Kopf über Wasser zu halten; sie kämpfte, so hart sie nur konnte. Außerdem fürchtete ich, sie könne mich zurückweisen, wenn ich sie herausforderte. Einmal fragte sie mich: »Schwester, haben Sie jemals Morphium genommen? Kennen Sie das wunderbare Gefühl, einfach davonzuschweben und alles hinter sich zu lassen?" Sie sehnte sich nach Erlösung.

Einige Tage später fragte ich Maureen, ob sie glaube, dass Catherine von ihrer Wut geheilt werden müsse. Sie erzählte Catherine davon, und diese war völlig verblüfft, weil sie überhaupt keine Wut empfand. „Was es zu beweisen gilt“, sagte ich. "Schau dir deine Situation an. Du wärst kein Mensch, wenn du nicht etwas Wut darüber empfinden würdest." Sie lag allein in dem halbdunklen Zimmer; draußen, nur wenige Meter entfernt, waren junge Menschen, die im Sonnenschein auf- und abspazierten, lachten und Eis aßen. Das machte mich wütend, wenn ich nur daran dachte - selbst solche einfachen Freuden blieben ihr versagt, einmal ganz abgesehen von den größeren Freuden und Schmerzen des Lebens. In dieser Nacht kam es zu dramatischen Entwicklungen. Nachdem alle Schwestern und Besucher sie verlassen hatten, brach in ihrem kleinen Zimmer die Hölle aus, wie sie es ausdrückte. Sie fühlte die Macht des Bösen, eine intensive und mächtige Macht der Wut, die sie zu verschlingen drohte. Außer sich vor Angst langte sie zum Telefon und rief mich an: "Schwester, der Teufel ist hier." Und während sie mir alles erzählte, empfand ich mit ihr die Wirklichkeit der bösen Mächte. Also beschwor ich diese Mächte im Gebet, dass sie verschwinden sollten. Ich betete so lange am Telefon, bis Catherine mir berichtete, dass diese Kräfte verschwunden seien und dass sie sich ruhig und fast schläfrig fühlte. Nach etwa einer Stunde legte ich den Hörer auf.

Diese Ausbrüche wiederholten sich mehrmals in den darauf folgenden Tagen; aber Catherine hatte jetzt den Mut, selbst damit umzugehen, und mit Gottes Hilfe siegte sie jedes Mal. Aber nach diesen Kämpfen bedurfte sie der Gebete mit der Bitte um Heilung; ihre Mutter half mir dabei.

Vielleicht werden einige Leser das, was ich hier dargestellt habe, in andere Begriffe übersetzen wollen; da es bekannt ist, dass Magersüchtige an unterdrückter Wut leiden, könnte man sagen, dass Catherines wirkliche Wut an die Oberfläche gelangt war. Ihre Mutter hatte mit ihr darüber gesprochen und ihr mitgeteilt, dass Wut ein durchaus akzeptables Gefühl sei, der sie Ausdruck verleihen konnte, ohne den Verlust der Liebe der Menschen, von denen sie abhing, fürchten zu müssen. Mit dieser Erklärung würde die Idee vom Bösen als einer vom Menschen unabhängigen äußeren Kraft, die ihn dennoch beeinflusst, hinfällig.

Während Catherines langem Aufenthalt im St. Antons-Krankenhaus wurde Katie Hughes, eine Kindheitsfreundin von Catherine, wegen eines Rückenproblems eingeliefert. Die Freundschaft zwischen beiden Mädchen vertiefte sich. Katie war bis zum Schluss für Catherine eine Quelle großer Liebe und Unterstützung. Sie beschrieb mir, wie Catherine sie nach ihrer Operation, als sie im Streckbett liegen musste, besuchte. Sie kam meist am späten Abend, manchmal ohne viel zu sagen, dann aber wieder redeten sie stundenlang, und Catherines Wut kam deutlich heraus. Es gab aber auch Zeiten, in denen sie gemeinsam auf Katies Bett lagen und Catherine weinte, ohne irgendetwas zu sagen. Katie glaubte, dass Catherine sich als schwarzes Schaf ihrer Familie sah.

Ende August war Catherine schon über 4 ½ Monate im Krankenhaus. Ich kämpfte mit mir selbst um die Frage, ob ich sie nicht lieber wieder nach Hause holen sollte. Die Familie bestand aber darauf, dass sie im Krankenhaus blieb. Sollte sich ein erneuter Notfall ereignen, war dort alles vorhanden, um sie zu retten. Und es war klar, dass sie ohne Behandlung sterben würde ...

Andererseits flehte Catherine mich regelmäßig an, ich möge sie doch nach Hause holen, und versprach, dass sie essen würde, wenn ich es täte. Langsam schien sie ihren Lebenswillen zurückzugewinnen aber nur sehr langsam. Der zwanghafte Drang zur Bulimie war von ihr gewichen, aber alle anderen Zwangsvorstellungen lebten genauso stark wie vorher in ihr. Sie aß zu jenem Zeitpunkt mehr oder weniger gar nichts. Ihre Ernährung erfolgte durch die Säfte der festen Lebensmittel, die sie kaute, nicht aber schluckte. Sie entwickelte plötzlich eine leidenschaftliche Vorliebe für Trauben und Melonen, welche bis zu ihrem Tod andauerte.

Im September musste John zu einem Kongress in die USA fliegen. Wir beschlossen, dass ich mitfahren und dass wir anschließend noch ein paar Tage Urlaub machen sollten. Wir trafen unsere Vorbereitungen so, dass wir sowohl vom Krankenhaus als auch von der Familie leicht zu erreichen waren. Ich hatte inzwischen entschieden, Catherine nach unserer Rückkehr nach Hause zu holen, aber um die Energie und Kraft dafür aufzubringen, brauchte ich zunächst ein paar Tage Abwechslung. Das Wissen, dass sie nun endlich nach Hause kommen durfte, würde Catherine das notwendige Ziel vor Augen führen, auf das sie sich freuen konnte, auch wenn ihr der Gedanke daran, dass ich zwei Wochen lang weg sein würde, unangenehm war.

Im letzten Dezember war Anna vom kirchlichen Internat abgegangen. Sie hatte beschlossen, dass sie, da Catherine so krank war, lieber zu Hause sein wollte und sich deshalb an einem der örtlichen Gymnasien angemeldet. Anna wollte Medizin studieren, nach Möglichkeit an derselben Universität wie Simon. Ihre Abiturfächer waren Chemie, Biologie und Spanisch. Man riet ihr, Spanisch fallenzulassen und statt dessen Physik zu wählen, weil so die Chancen auf einen Studienplatz besser seien. Dies bedeutete, dass sie weniger als ein Jahr Zeit hatte, um den gesamten Physikkurs aufzuarbeiten.

Während wir nun am Anfang ihres letzten Schuljahres in Amerika waren, besuchte Anna Catherine täglich. Catherine ging es sehr schlecht, und sie verlangte ständig unmögliche Dinge von Anna. Neben ihrer Geduld im Umgang mit Catherine besorgte Anna auch deren gesamte Wäsche, die durch ihre Muskelschwäche sehr verschmutzt war. Anna nahm es außerdem auf sich, einmal pro Woche ihre Großmutter in einem Londoner Altersheim zu  besuchen, was eineinhalb Stunden Fahrt im dichten Verkehr bedeutete. Der Druck, der auf ihr lastete, war enorm, und Simon, Jenny und Richard taten alles in ihrer Macht Stehende, um ihr zu helfen und sie zu unterstützen.

Joelle eine Freundin von mir, besuchte Catherine auf ihren Wunsch hin im Krankenhaus. Sie war erschüttert von dem Besuch - so erzählte sie mir Monate später -, da Catherine in ihrem Bedürfnis nach Hilfe alle Schutzzäune fallengelassen hatte und, wie Joelle es formulierte, "mich meine Unfähigkeit, ihr diese Hilfe zu geben, zutiefst verstörte ... Von diesem Tag an konnte ich niemals ohne ein Gefühl körperlichen Schmerzes an Catherine denken."

Eines Tages kehrten wir zum Hotel zurück und fanden eine dringende Nachricht des Krankenhauses vor. Ich war sicher, dass Catherine gestorben sein musste, und konnte den Anruf selbst nicht tätigen. Mit klopfendem Herzen schloss ich mich im Badezimmer ein und wartete darauf, dass John durchkam, um das Schlimmste zu erfahren. Es stellte sich jedoch heraus, dass Catherine selbst angerufen hatte. Unkontrolliert schluchzend bat sie mich, sofort zurückzukehren. Trotz der Freundlichkeit und Geduld, die alle für sie aufbrachten, hielt sie es ohne mich nicht aus, konnte sie nicht einen Tag länger in der Klinik bleiben. John nahm mir den Hörer aus der Hand und erklärte Catherine, dass ich wie geplant am 26. September - und nicht vorher - zurückkommen würde. Und obwohl mein Gefühl zurück nach England und zu Catherine rasen wollte, wusste ich, dass John Recht hatte, wenn er darauf bestand, dass wir unseren gemeinsamen Urlaub bis zum Ende durchführten.

Kapitel 6

Nach sechs vollen Monaten im Krankenhaus kehrte Catherine am 1. Oktober 1982 nach Hause zurück. Niemand, der sie an jenem Tag das Krankenhaus verlassen sah, glaubte, dass sie noch lange leben würde. Sie wog weniger als … Kilo und sah aus wie ein lebendes Skelett. Sie hatte die Kontrolle über ihre Muskeln verloren und konnte nur stehen, wenn sie gestützt wurde. Aber trotzdem wollte sie leben. Bevor sie ihr Krankenhauszimmer verließ, sagte sie: "Gemeinsam werden wir es schaffen."

Die einzige Bedingung, die ich stellte, bevor ich mich damit einverstanden erklärte, sie nach Hause zu holen, war, dass sie mir die Verantwortung für das Essen überließ. Ich war keineswegs sicher, dass sie sich darauf einlassen würde. Sie stimmte mir jedoch auch darin zu, dass es nicht schlecht wäre, wenn ich ihr bei den Mahlzeiten Gesellschaft leistete. Ich erwähnte kein Zielgewicht, dennoch war mein Wunsch, ihr Gewicht so weit zu erhöhen, dass ihr Tod verhindert würde. Ich begann, indem ich ihr Babynahrung gab und nur verlangte, dass sie einen Teelöffel voll schluckte. Mein Glücksgefühl, als es ihr tatsächlich gelang, war riesig, auch wenn ich nach außen hin ruhig zu bleiben versuchte. Trotzdem sparte ich nicht an Lob, wenn ich merkte, dass sie besonders viel erreicht hatte. Nach einigen Tagen begann ich, ihr das für die Familie gekochte Essen zu geben. Es fiel ihr wesentlich schwerer, davon etwas anzunehmen. Wenn sie Probleme mit dem Schlucken hatte, fragte ich sie: "Warum kannst du nicht schlucken? Woran liegt es, dass du es nicht zulassen kannst, dass das Essen dir Gutes tut?"

Und sie antwortete dann: "Ich wünschte, ich wüsste es." Sie beendete jede Mahlzeit mit einem Stück Melone und einem halben Pfund Trauben, wobei sie nicht einmal versuchte, sie zu schlucken. Ihre Flüssigkeitsaufnahme belief sich auf ungefähr einen halben Liter pro Tag und bestand aus Diätlimonade und schwarzem Tee. Obwohl sie nur sehr wenig aß, begann sie merklich besser auszusehen. Sich daran zu erinnern, wie ich versuchte, Catherine wieder gesund zu bekommen, gleicht der Erinnerung an einen Alptraum. Die Ängste, die wir ausstanden, sind zu zahlreich, um im einzelnen aufgeführt zu werden. Als Catherine sich kräftiger zu fühlen begann, versuchte sie immer mehr für sich selbst zu sorgen; aber schließlich endeten all ihre Versuche damit, dass sie in Ohnmacht oder auf schmerzhafte Weise zu Boden fiel. Mehrere Male glaubte ich, sie wäre tot, als ich sie bewusstlos am Boden liegend fand; ähnlich erging es Anna, die jedes Mal den gleichen Schock erlitt, weil sie glaubte, Catherine sei gestorben.

Am 17. Oktober wurde Catherine 21 Jahre alt. Die meisten ihrer gleichaltrigen Freunde waren entweder im Ausland oder studierten irgendwo anders. Trotzdem beschlossen wir, eine kleine Überraschungsparty für sie zu veranstalten. Wir luden Freunde ein, die sie seit Jahren kannten und zu denen sie eine besondere Zuneigung empfand. Sie blieb die ganze Zeit über in ihrem Zimmer im Bett, aber alle gingen allein oder zu zweit nach oben, um ihr "Happy Birthday" zu wünschen und ein kleines Geschenk zu bringen. Sie war, wie wir selbst auch, tief gerührt und überwältigt von der Liebe, die alle ihr entgegenbrachten.

Die Unterstützung und Freundschaft der Menschen, die über sich selbst hinausgingen, um uns zu helfen und zu verstehen suchten, waren mir eine ständige Quelle neuer Kraft.

Am Morgen ihres Geburtstages überredete ich sie dazu, zwei Polaroidfotos von sich machen zu lassen, eines von ihrem nackten Körper von hinten, und das zweite von ihrem Kopf und ihren Schultern. Ich hoffte, sie zu schockieren, wenn sie sah, wie sie tatsächlich aussah. Drei Wochen später bat sie mich, zwei weitere identische Fotos zu machen. Diese zeigten einen Fortschritt in ihrem Aussehen, aber sie sagte kein Wort dazu.

Etwa zu diesem Zeitpunkt ergänzte ich Catherines Ernährung durch Complan. Ich mischte Complan, Milchpulver, drei rohe Eier, Naturjoghurt und Eis zu einer Art dickflüssigem Milchshake. Insgesamt ergab es ungefähr 1,2 Liter. Sie trank davon jedoch nur, wenn sie allein war, was mich stutzig machte; es brauchte nicht lange, bis ich herausfand, dass sie mindestens drei Viertel davon auf alle möglichen Arten verschwinden ließ. Zum Beispiel stellte ich fest, dass die Pflanzen unter ihrem Schlafzimmerfenster eine neue, cremige Farbe bekommen hatten. Ein anderes Mal entdeckte ich eine mit Ornamenten verzierte Holzkiste unter ihrer Bettdecke; bisher hatte sie diese für Reste verwendet, jetzt enthielt sie die Complan-Mixtur! Wenn ich diese Entdeckungen machte, konfrontierte ich sie damit. Manchmal wurde sie sehr wütend, aber ihre Wut schlug stets in die Bitte um Verzeihung um. Ich betonte, dass es nichts zu verzeihen gäbe, da sie nur sich selbst schade. Wenn sie das Complan nicht wollte, würde ich es eben nicht mehr zubereiten. Tatsächlich machte ich mir nicht allzu große Sorgen: selbst wenn sie nur ein Viertel von dem nahrhaften Gemisch zu sich genommen hatte, war dies immer noch eine sehr sinnvolle Ergänzung zu Catherines Ernährung.

Irgendwann in dieser Zeit kam ihre Freundin Katie Hughes zu Besuch. Ich fuhr die beiden ins Kino, wo "Rocky 111" gespielt wurde. Es war Catherines erster Ausflug seit Monaten, und ich muss zugeben, dass ich mehr als nur ein kleines bisschen skeptisch war. Katie erzählte: "Alles, was sie machte, schien eine Ewigkeit zu dauern und sie enorme Kraft zu kosten. Die Treppen hinauf zur Kasse wurden zu einer großen Plackerei. Ich kann mich kaum an den Film erinnern, da ich die ganze Zeit damit zubrachte, Catherine zu beobachten. Einmal ließ sie ihre Eintrittskarte auf den Boden fallen und versuchte, sich danach zu bücken. Einen entsetzlichen Moment lang glaubte ich, sie sei zusammengebrochen und gestorben. Am Ende des Nachmittags war ich völlig erschöpft."

Neun Wochen nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus wog Catherine … Kilo, was einer Gewichtszunahme von mehr als … Kilo entsprach. Die Familie und die Freunde waren hocherfreut - ich vermute, es muss ihnen wie ein Wunder vorgekommen sein. Das lebende Skelett war aus dem Krankenhaus zurückgekommen und hatte sich tatsächlich verändert! Obwohl sie immer noch sehr dünn und gebrechlich aussah, hatte sie ihre Muskeln wieder unter Kontrolle und auch viel von ihrer Kraft, ihrer geistigen Energie und Konzentrationsfähigkeit zurückgewonnen. Dr. Foot besuchte sie regelmäßig und baute das Vertrauen, das Catherine zu ihr entwickelt hatte, weiter aus.

Catherine wollte sich nun unbedingt eine Arbeit suchen, entschied aber, nicht wieder als Sekretärin zu arbeiten; der Umgang mit Kindern, so glaubte sie, sei der beste Weg, sich selbst zu helfen. Sie hatte auch die Idee - sollte sie je wieder ganz gesund sein -, Krankenschwester zu werden, so dass aus ihrer Sicht die Kinderfrau bereits der erste Schritt in diese Richtung war. Sie begann, die Anzeigen in der Tageszeitung zu durchforsten, und führte einige Vorstellungsgespräche bei Agenturen. Ich erinnere mich noch deutlich an das erste Gespräch. Ich saß im Wagen und beobachtete mit klopfendem Herzen, wie sie die fünf oder sechs Treppen zum Eingang hinaufstieg; sie sah so zittrig aus, dass ich dachte, sie würde hinfallen. Sie bestätigte mir hinterher, dass sie befürchtet hatte, die Treppen nicht schaffen zu können. Während der Vorstellungsgespräche wurde sie meist nach oben geführt, um sich die Kinderzimmer anzusehen, und sie entschuldigte ihre Schwierigkeiten beim Treppensteigen, indem sie behauptete, sie habe sich am Bein verletzt.

Catherine fand einen Job bei einer jungen Frau, die von ihrem Mann getrennt lebte und den ganzen Tag über im Büro arbeitete.

Sie kümmerte sich rührend um die beiden reizenden kleinen Mädchen, Christina, ein Jahr alt und Sarah, drei Jahre alt. Die Bedingungen waren aus Catherines Sicht ideal, weil niemand da war, der sie den ganzen Tag mit Fragen nervte. Außerdem konnte sie jedes Wochenende zu Hause verbringen. Catherine liebte ihre Arbeit und hing sehr an den Kindern. Es dauerte nicht lange, da hatte sie sich unentbehrlich gemacht. Sie kümmerte sich nicht nur um die beiden Mädchen, sondern reinigte auch noch das dreistöckige Haus einschließlich Terrasse vom Keller bis zum Boden, wusch und bügelte und erledigte oft auch noch den Einkauf. Woher sie die Kraft für einen körperlich derart anstrengenden Job nahm, wird mir immer ein Rätsel bleiben. Aber es war typisch für Catherine! Wenn sie am Wochenende nach Hause kam, war sie körperlich und geistig erschöpft und ruhte sich viel aus, um so für die darauffolgende Woche aufzutanken.

Als Catherine diese Arbeit angeboten wurde, überlegte ich lange, ob ich die Mutter anrufen und ihr von Catherines Krankheit erzählen sollte. Allerdings würde ich Catherine damit aber ziemlich sicher die Chance nehmen, sich selbst zu bewähren. Nach langem Hin und Her entschied ich mich dafür, nicht anzurufen. Aber kaum hatte Catherine ihre Arbeit angetreten, rief die Mutter mich an und fragte, ob Catherine magersüchtig sei. Als ich es ihr bestätigte, fragte sie mich, wie ihr meiner Meinung nach am besten geholfen werden könne. Ich antwortete, dass sie Catherine auf keinen Fall spüren lassen solle, dass sie Bescheid wisse, dass sie sie nicht beim Essen beobachten und Catherine vor allem das Gefühl geben solle, dass sie ihr vertraue.

Weihnachten war in jenem Jahr ruhiger als gewöhnlich. Zum ersten Mal seit vielen Jahren feierten meine Schwester und ihre Familie nicht mit uns. Nach dem Abendessen beschäftigten wir uns mit den üblichen Spielen - aus dem Alter der Krippenspiele waren wir alle längst herausgewachsen! Catherine saß da und beobachtete alles, war aber nicht in der Lage, daran teilzunehmen. Ich fragte sie, ob sie uns nicht eines ihrer Lieblingsgedichte vorlesen wolle. Zu meiner Überraschung willigte sie ein. Sie wählte "Der Bucklige", ein Gedicht, das ich vorher nicht kannte, das aber besonders spannend wurde, weil es eine Analogie zu ihr selbst und der Isolation des kleinen Buckligen enthielt.

Nach Weihnachten kehrte sie zu ihrer Arbeit zurück und hatte nun das Gefühl, dass sie sie seelisch zu sehr anstrengte. Manchmal rief sie mich tagsüber an, oft an der Grenze zum Zusammenbruch. Sie gestand, dass die Bulimie zurückgekehrt sei. Sie gab sich ihr nachts hin, wenn sie ungestört war. Natürlich fehlten ihr jetzt die notwendige Ruhe und der Schlaf. Die Magersucht hielt Catherine immer noch in ihren Fängen.

Am Samstag vor unserem 25. Hochzeitstag wurden John und ich aufgefordert, den Tag über wegzugehen. Catherine und Anna erzählten dass sie zusammen mit Simon, Jenny und Richard ein kleines familiäres Festessen geplant hätten. Sie wollten, dass es eine Überraschung werde, mussten mich aber einweihen, damit ich ihren Vater den Tag über vom Haus fernhielt. Als wir abends zurückkamen, wurden wir mit der Bitte, uns schick zu machen, nach oben gedrängt. Etwa eine Stunde später wurden wir hinunter "gebeten"; sie boten uns als Aperitif einen Sherry an. Wir waren sehr beeindruckt, wie nett sie sich alle zurechtgemacht und dass sie sich so viel Mühe gegeben hatten. Während wir ruhig dasaßen und unsere Drinks genossen, klingelte es an der Tür. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich mich fragte, wer das wohl sein könnte. Es war einer unserer Trauzeugen mit seiner Frau - Freunde, die wir seit Jahren nicht mehr gesehen hatten. Innerhalb weniger Minuten kamen weitere Gäste, und bald fiel bei mir der Groschen. In der Zwischenzeit wurden Blumengestecke aufgebaut große Tabletts mit Gläsern und Häppchen herumgereicht.

Catherines Augen lösten sich nicht von unseren Gesichtern, während wir jeden Neuankömmling begrüßten. Die Party war ein großer Erfolg; alle hatten sich mit Begeisterung der Verschwörung angeschlossen. Freunde, die in der Nähe wohnten, hatten nicht einmal durchein Wort oder einen Blick auch nur den leisesten Hinweis gegeben.

Die Idee für die Party war von Catherine ausgegangen, und sie war diejenige, die alle Gäste angerufen bzw. angeschrieben und eingeladen hatte.Am Morgen der Party waren Catherine und Anna früh aufgestanden und auf den Markt gegangen, um frisches Gemüse und Salate - einschließlich 80 Zwiebeln - einzukaufen! Sie holten auch neun Kilo gehacktes Rindfleisch vom Metzger ... Nachdem sie mit dem Einkauf fertig waren, hatten sie sich an die langwierige Vorbereitung und Kocherei für mehr als 50 Personen gemacht. Auch eine Auswahl von Desserts wurde zubereitet. Eines davon, das Catherine schon ein paar Tage zuvor gekocht hatte, nannte sich "Passionskuchen". Sie hatte auch - mit Erlaubnis ihrer Arbeitgeberin - einen riesigen Obstkuchen gemacht. Meine Mutter, die während der Vorbereitungen dabei war, erzählte mir hinterher, welche Freude es ihr bereitet habe, soviel Gelächter und Geschwätz aus der Küche zu hören.

Eine Freundin von Anna hatte sie bei der Wahl des Weines beraten, und Champagner wurde zusammen mit dem "Silber-Hochzeitskuchen" gereicht. Während des ganzen Abends wich Catherine nicht von unserer Seite und beobachtete uns, als ob sie sich in unserer Freude sonnte.

In den frühen Morgenstunden, als alle Gäste gegangen waren, ließ Catherine sich blass und erschöpft ins Bett fallen. John, Simon, Jenny, Richard, Anna und ich blieben noch auf und schwätzten. Ich sagte ihnen, dass die Party für Catherine eine wichtige Herausforderung gewesen war - der Grund, für den sie immer weitergemacht habe, und dass sie am folgenden Morgen sehr niedergeschlagen sein würde. Simon und Jenny fuhren so gegen 10 Uhr früh ab. Sie lernten kräftig für ihr Abschlussexamen im Juni und wollten sich wieder in ihre Bücher stürzen. Wie erwartet, war Catherine in eine tiefe Depression gefallen, so tief, dass sie nicht einmal sprechen konnte. Sie blieb im Bett. John und ich waren von Freunden zu einem Sektempfang eingeladen worden, und wir verließen das Haus so gegen 12 Uhr 40. Anna lernte in ihrem Zimmer, und Richard las in der Küche die Zeitung.

Wir waren nur wenige Minuten bei unseren Freunden, als das Telefon klingelte: Catherine war zusammengebrochen.

Wir eilten nach Hause, Dr. Foot kam nur wenige Minuten nach uns an. Catherine hatte eine Überdosis Tabletten genommen. Ich fuhr mit ihr im Krankenwagen zur Notaufnahme, während John und Anna im Auto hinterher kamen. Alles, woran ich mich an dieser Fahrt erinnere, ist, dass ich die ganze Zeit auf sie einredete, weil mir etwas sagte, dass sie auf keinen Fall einschlafen dürfe. Bei unserer Ankunft wurde sie sofort zum Magenauspumpen gebracht. Wir blieben vier oder fünf Stunden bei ihr.

Nachdem wir zu dem Sektempfang gegangen waren, war Catherine offenbar heruntergekommen und hatte sich eine Tasse Kaffee gemacht. Sie saß auf einem Hocker an der Küchentheke, als ihr Kopf auf einmal vornüber fiel. Richard erreichte sie gerade noch rechtzeitig, um zu verhindern, dass sie auf den Boden knallte. Er rief Anna, und gemeinsam trugen sie sie hinauf und legten sie aufs Bett.

Anna rannte, nachdem sie Catherines Beine angehoben und den Kopf zur Seite gedreht hatte, zum Telefon und rief Dr. Foot und uns an. Catherine erzählte mir hinterher, dass die Tabletten schneller als geplant gewirkt hätten ...

An jenem Abend klingelte um halb elf Uhr das Telefon. Es war die Klinik. Catherine bestand darauf, das Krankenhaus "auf eigene Gefahr" zu verlassen. Bei unserer Ankunft im Krankenhaus sagten die diensthabende Schwester und wir alles, was uns in den Sinn kam, um sie davon abzubringen, nach Hause zurückzukehren. Es erwies sich als sinnlos. Wie ich schon früher sagte: es bringt nichts, mit einem Magersüchtigen zu diskutieren. Eine junge Ärztin kam dazu. Während ich bei Catherine blieb, schnappte sie sich John und erteilte ihm eine Lektion darüber, wie unverantwortlich es sei, dass er seine Tochter in ihrem schlechten Zustand aus dem Krankenhaus nehmen wolle. John musste sie schließlich unterbrechen. „Entschuldigen Sie, ich glaube, Sie sind falsch informiert . . .“

Die nächsten Tage blieb Catherine zu Hause im Bett und schlief viel. Sie kam nur herunter, um sich ihre kargen Mahlzeiten zuzubereiten, und verschwand dann wieder in ihrem Zimmer. Wann immer es möglich war, saß ich bei ihr; wenn sie dazu in der Lage war, redeten wir. Ihre starke Sehnsucht nach dem Tod war wieder zurückgekehrt - sie konnte sich dem Leben nicht länger stellen. Sie musste ständig von mir in die Arme genommen werden. Ich rief die Mutter der beiden kleinen Mädchen an und teilte ihr mit, dass Catherine nicht zurückkommen würde. Eines Nachmittags, während eines unserer Gespräche, fragte Catherine mich: "Weißt du eigentlich, warum ich am Anfang so plötzlich mit dem Essen aufgehört habe?" Ich verneinte, obwohl ich glaubte, die Antwort zu wissen.

Auf ihre Antwort war ich jedoch nicht vorbereitet. "Um dich zu beschützen. Weißt du, die einzige Art und Weise, wie ich krank werden konnte, war, dass ich aufhörte zu essen. Und", fuhr sie fort, "die einzige Möglichkeit, zu Hause bleiben zu dürfen, war, dass ich krank wurde. Ich hatte solche Angst um dich, wenn du mit Vati allein warst."

John und ich hatten zu unserer Silber-Hochzeit einen einwöchigen Besuch in Israel geplant, und nun waren wir unentschieden, ob wir fahren sollten oder nicht. Die Familie, Catherine eingeschlossen, drangen immer wieder darauf, dass wir fahren sollten, und in letzter Minute entschieden wir, unsere Urlaubspläne zu realisieren.

Unsere Woche im Heiligen Land war zugleich eine tief geistliche wie auch visuell faszinierende Erfahrung für mich. Bei jeder Gelegenheit legte ich Gott meine liebste Tochter Catherine ans Herz, betete für das Ende ihrer Ängste und Leiden und dafür, dass sie geheilt werden und Frieden finden möge. Für mich wurde die Reise zu einer Pilgerfahrt um Catherines willen. Richard holte uns vom Flughafen ab. Erst viel später erfuhren wir von Catherines zweitem Versuch, sich das Leben zu nehmen, der erst in der vergangenen Nacht stattgefunden hatte.

Ich rief Dr. Foot an und fragte sie, ob sie nicht einen Psychiater kannte, der Catherine behandeln konnte. Sie fand einen, und innerhalb von zwei Tagen kam er bei uns vorbei. Ich denke, wir hatten alle unsere Hoffnungen an diesen Psychiater geknüpft, aber traurigerweise blieb die dringend notwendige Hilfe aus. Dies war zuviel für Anna. Sie hatte ihre Schwester sehr lange leiden sehen - und jetzt hatte ihre Schwester zwei Versuche unternommen, sich das Leben zu nehmen. Sie konnte sich die tiefe Verzweiflung nicht vorstellen, die Catherine zwang, ihrem Leben so unbedingt ein Ende setzen zu wollen.

Im folgenden beschreibt Anna einen Vorfall, der sich zwischen den beiden ereignet hatte:

Der erste Selbstmordversuch war für mich bereits ein großer Schock gewesen, aber als ein zweiter folgte, glaubte ich nicht, dass ich damit zurechtkommen konnte. Ich hatte das Gefühl in lauter Scherben zu zerfallen. Es war bei diesem zweiten Selbstmordversuch, dass ich begriff, wie umfassend Catherines Zwang war, Tabletten zu horten. Sie hatte eine ganze Aktentasche voll davon. Ich kämpfte, um ihr die Tasche abzunehmen, aber Catherines Griff war so fest, dass ich sie ihr nicht einmal mit beiden Händen wegzureißen vermochte. Ihr verzweifelter Blick, ihr Schreien und ihre Abhängigkeit flößten mir Angst ein. Ich hatte das Gefühl, jemanden anzuschauen, den ich nie zuvor gesehen hatte. Dieses Mädchen war nicht Catherine. Ich wollte nicht glauben, dass sich jemand so verändern und so tief fallen konnte, vor allem nicht Catherine. Ich glaube, die Liebe, die ich für sie empfand, verwandelte sich für einige Zeit in Schmerz und Depression.

Als der Psychiater das Haus verließ, bat Anna Catherine, ins Krankenhaus zu gehen und eine Behandlung anzunehmen. Catherine sagte, sie könne nicht. Bei Catherines Weigerung, ins Krankenhaus zu gehen, geriet Annas Schluchzen außer Kontrolle. Zwischen ihrem Schluchzen erklärte sie, dass sie nicht länger arbeiten könne und alles aufgebe. Annas Niedergeschlagenheit und Verzweiflung brachten John dazu, Dr. Foot anzurufen, die sofort herbeieilte. Als sie Anna zusammengekauert auf dem Boden liegen sah, kniete sie sich neben sie und legte die Arme um sie. Ich kann mich nicht mehr an alles erinnern, was sie sagte, aber ich weiß noch folgende Sätze: "Du hast im Moment nicht das Gefühl, dass du damit zurechtkommen kannst. Aber ich versichere dir, dass du dich in ein paar Wochen anders fühlen wirst. Anna, Menschen, die nie selbst Leid erfahren haben, sind ganz schlechte Ärzte - du wirst eine wundervolle Ärztin werden."

Bevor sie ging, gab sie ihr etwas, das Anna zwölf Stunden lang tief und fest schlafen ließ. Es dauerte noch fast drei Monate, bevor Anna sich wieder voll und ganz auf ihre Studien konzentrieren konnte.

Am folgenden Tag packte Catherine ihre Koffer, um für eine Weile zu ihrer Großmutter zu ziehen. Bei ihrer Ankunft erklärte sie meiner Mutter, dass sie gern für einige Zeit bei ihr bleiben und sich vor Ort eine Arbeit suchen wolle. "Ich werde mich um dich kümmern, Oma", fügte sie noch hinzu. Als ich am nächsten Tag zum Haus meiner Mutter fuhr, war diese sehr erleichtert, mich zu sehen. Sie hatte sich wegen Catherines Erscheinungsbild Sorgen gemacht - Catherines Gewicht betrug nur … Kilo, und sie sah ausgemergelt und hohläugig aus. Catherine zeigte dagegen keine Gefühlsregung, als sie mich sah. Im Gegenteil: es schien, als hätte sie meine Ankunft gar nicht zur Kenntnis genommen. Ich hatte die Absicht, so lange mit Catherine bei meiner Mutter zu bleiben, bis ich sie dazu überreden konnte, der Einlieferung ins Krankenhaus zuzustimmen, was ich sowohl um Annas als auch um Catherines willen für absolut notwendig hielt. Am späten Sonntagabend teilte Catherine mir mit, dass sie ins Krankenhaus gehen werde, aber nur, um sich auszuruhen. Sie weigerte sich absolut, irgendeiner Behandlung zuzustimmen. Dr. Foot rief dann bei zahlreichen Kliniken an, aber keine wollte Catherine aufnehmen, wenn diese sich nicht behandeln ließe. John setzte sich mit dem Arzt in Verbindung, der sie 1979 psychotherapeutisch behandelt hatte, und dieser empfahl einen bekannten Professor. Im Gespräch mit ihm erfuhr Dr. Foot, dass er in der Woche zwanzig Fälle angetragen bekam, die ähnlich wie Catherines waren, von denen er aber nur einen annehmen konnte. Der früheste Termin, den er ihr geben konnte, war im Juli, und vor November war in seiner Abteilung kein Bett frei - weitere acht Monate lang!

Nach zwei Tagen am Telefon brachte Dr. Foot Catherine schließlich in einer privaten psychiatrischen Klinik in Roehampton unter. Der Assistenzarzt, der sich um sie kümmern sollte, entschied, dass Catherines einzige Chance darin bestand, zwangsbehandelt zu werden. Am 2. März 1983 fuhr ich Catherine von meiner Mutter aus ins Krankenhaus. Sie hatte keine Ahnung davon, dass sie wieder unter die Sektion 26 des Gesetzes über geistige Zurechnungsfähigkeit gestellt wurde. Ich persönlich glaube nicht, dass diese Entmündigung eines Magersüchtigen irgend etwas bringt, es sei denn, er oder sie wünscht es. Ich wusste von früheren Erfahrungen her, dass die Entmündigung bei Catherine ein tiefes Misstrauen Ärzten und Krankenhäusern gegenüber heraufbeschworen hatte, und ihre Weigerung, seit ihrem 18. Geburtstag irgendeine Hilfe anzunehmen, rührte von der Angst vor einer erneuten Entmündigung her. Zu diesem Zeitpunkt war ich jedoch so verzweifelt, dass ich es um unser aller willen zulassen musste. Während der zwei Tage, die ich mit ihr bei meiner Mutter verbracht hatte, war sie sehr krank gewesen ‑- ihre Gewohnheiten waren unterbrochen worden, und damit konnte sie seelisch nicht fertig werden.

"Zu keinem Zeitpunkt habe ich geglaubt, dass sie genesen würde", erklärte Dr. Foot mir später. "Es steckte etwas Unausweichliches in ihrer Art, wie sie das Hungern, die Bulimie, das Schlucken von großen Mengen Abführmitteln und das Verstecken von Lebensmitteln anging." Sie betrachtete Catherine als "eine starke Persönlichkeit, die die Magersucht nur zufällig als Krankheit benutzte, um mit einem klaren Bewusstsein zu sterben ... Sie hatte keine Angst vor dem Tod, aber sie reagierte sehr verstört, wenn sie Probleme mit dem Sehen, Halsschmerzen oder Kopfschmerzen bekam, welche aus ihrer extremen Schwäche heraus entstanden." Kurz bevor Catherine starb, überreichte sie Dr. Foot ein kleines Schmuckkästchen. "Es erinnert mich fast täglich an den Bund, den wir geschlossen hatten - als Partner. Als Arzt ihres Vertrauens leitete sie mich. Oh ja sie hatte mich in der Hand", fügte sie hinzu.

Am Abend bevor ich bei meiner Mutter ankam, hatte Catherine Marie angerufen, die ihr während ihres langen Krankenhausaufenthaltes im vorhergehenden Jahr eine so große Hilfe gewesen war. Sie hatte sie sehr verwirrt und verzweifelt gefragt, ob sie mit ihr beten würde. Über das Telefon redete Marie auf sie ein und betete mit ihr. Dann sagte sie ihr, sie solle alle Tabletten, die sie eventuell bei sich habe, ihrer Großmutter geben. Sie bat Catherine, sie zurückzurufen, wenn sie das getan hätte. Catherine gab die Tabletten nicht ihrer Großmutter. Trotz ihres verzweifelten seelischen Zustands mochte sie ihre Großmutter nicht erschrecken. Ich vermute, dass sie die Tabletten, sofern sie zu diesem Zeitpunkt welche besaß, die Toilette hinuntergespült hat, denn ich fand nichts als ein paar Abführpillen, als ich drei Tage später ihre Sachen für das Krankenhaus packte.

Catherines Tagebuch

26. Februar 1983

Im Moment fühle ich mich verloren, einsam und ängstlich. Ich kann hier nicht mit meinen Fressgelagen zurechtkommen. Ich kann nicht bleiben, meine Magersucht ergreift fern von Mutti noch viel stärker Besitz von mir. Ich werde keine Behandlung - welcher Art auch immer - annehmen, aber ich weiß mit Gewissheit, dass ich ohne Mutti nicht in der Lage bin, zurechtzukommen. Mir ist die Situation zu Hause bewusst, aber ich finde, dass Anna mir gegenüber etwas hart ist. Um zu leben, muss ich im Augenblick nach Hause. Ich weiß einfach nicht, was mir widerfahren wird. Ich hebe meinen Vater und meine ganze Familie, aber mehr als alles andere brauche ich meine Mutter. Ich brauche sie, um mich geistig so klar zu halten, wie ich nur sein kann. Ich habe so vieles in mir selbst vergraben, ich muss bei ihr sein, mit ihr. Ist das fair? Ich frage es mich. Ich weiß einfach nur, dass ich sie im Augenblick dringender brauche als Anna. Anna ist stark, intelligent und empfindsam. Aber ich, ich habe kein Selbstvertrauen und bin nur ein kleines, hilfloses Baby. Alles, was ich kann, ist schreien, wieder und wieder. Hilf mir, rette mich, hilf mir bitte schreien. Mutti, rette wenigstens du mich. Ich weiß, wie es ist, wenn Anna und ich zusammen sind, aber im Moment bin ich am Ende. Ich fürchte und erwarte voller Schrecken Vatis Reaktion, seine Wut, seine Frustration, sein Toben wegen meiner Unfähigkeit, von Mutti getrennt zu sein. Aber manchmal muss Anna das Verständnis eben erst nahe gebracht werden. Ich weiß, dass ich nicht einmal zu Margaret allein gehen könnte. Ich könnte dieses ganze Buch mit Geschwätz füllen. Aber im Prinzip ist das alles ein Teufelskreis. Ich brauche meine Mutter, mein Zuhause, mein Zimmer und alle meine Dinge, um mich am Leben zu erhalten. Ich kann nicht mehr länger etwas essen, nur noch Kaffee und Bouillon trinken und Zitroneneiswürfel lutschen. Das ist keine Drohung, aber ich bin so erstickt, dass ich einfach nicht weitermachen kann.

Ich werde nie wieder arbeiten können. Ich werde eine einsame Behinderte sein, die in ihrer Welt lebt, mit genug Raum für meine Mutter. Ich weiß einfach nicht, wohin ich mich wenden oder was ich machen oder sagen soll. Gott, bitte hol mich. Weggehen-Müssen und Weg-Sein haben mich gelehrt, wer oder was ich bin. Hart, wie es scheinen mag, aber glaubt mir, es hat mich völlig in Stücke gerissen.

Am folgenden Morgen

Heute morgen war ich so verängstigt und allein, dass ich einfach nur hier sitzen und weinen wollte. Ich brauche mein Zuhause und Mutti. O Gott, wo gehe ich hin? Ich kann mich ihm nicht stellen, dem Leben meine ich. Ich brauche mein Zuhause, mein Zimmer, meine Familie, aber mehr als alles in der Welt brauche ich Mutti. Ich fühle mich so schrecklich, nachdem ich letzte Nacht gefressen habe. Ich habe heute ein Kilo mehr gewogen. Oh, wo nimmt man mich auf, wo kann ich hingehen, wo werde ich mich sicher fühlen, wenn ich nicht nach Hause zurückkehren kann? Ich finde, Anna sollte mich akzeptieren müssen, denn ich habe gewiss ein Recht darauf, zu Hause zu sein. Wenn sie sich meinetwegen entschließt, aufzugeben, dann kann ich nichts dafür. Ich bin, wer ich bin. Sie ist intelligent und hat Durchsetzungsvermögen, sie kann bestimmt versuchen, vernünftig zu sein, aber stattdessen scheint sie sich in einen Zustand hineinzusteigern.

Gott, ich bin ein hilfloser Mensch

Hilf mir, denn ich kann nicht mehr

Fern von Mutti - rette mich, hilf

Mutti, du bist meine Retterin, mein Leben

Ich kann nicht ohne dich leben.

Du musst das sehen und verstehen. Ich kann auf keinen Fall so getrennt von Dir leben. Bitte hilf mir, hilf mir, indem Du sagst, Du willst mich.

Ich weiß, ich bin eine Last, Ärger, ein Schmerz. Aber der Schmerz, der mich die ganze Zeit durchströmt, ist zu stark, um in Worten erklärt zu werden. Alles, was ich weiß ist, dass es wehtut. Bitte, bleib bei mir, hilf mir. Nur mit Dir zusammen zu sein, zu wissen, dass Du immer an meiner Seite bist, ist; was mir hilft. Es mag nicht so scheinen, aber gestern und die vorangegangenen Tage waren nicht besonders gut.

Niemand hat sich wirklich eine Lösung überlegt, weil die Frage lautet, wie ihr mich ganz einfach loswerdet. Aber Du kannst das nicht tun, ich kann das nicht ertragen. Ich kann es einfach nicht. Ich wünschte, ich könnte erklären, was ich fühle, aber nichts, was ich sage, wird jemals ernst genommen, es ist immer ein großer Teufelskreis.

"Seit Du achtzehn bist, hast Du alles immer nach Deinem Kopf gemacht." Stimmt, stimmt, aber niemand kann mich verbessern - ich brauche einfach nur Liebe und Mutti. Ich liebe auch Vati sehr - glaubt nicht, dass ich es nicht tue, aber jeder ist anders. Bitte hilf mir bleib in meiner Nähe und steh mir bei. Der Schmerz, in dem ich lebe, ist zu groß. Ich wünschte mir um unser aller willen, dass Gott mich zu sich nähme. Darum bin ich jetzt auf einer Nulldiät. Tatsache ist, dass ich mich so erstickt und voll von Schmerzen fühle, dass ich nicht einmal Lust habe, etwas zu essen. Aber wenn ich dann nachts ängstlich und alleine bin, fresse ich wegen der Gedanken daran, dass ich ohne Mutti und Zuhause bin.

Es ist ein Weg, um meinen Schmerz zu betäuben und mich selbst zu foltern. Oh, ich weiß nicht, wann ich aufhören muss. Eil' dich, eil' dich, nimm mich in Deine Arme und lass mich nie wieder los. Bitte, lass mich niemals los. Ich werde sterben, ich werde in so kleine Stückchen zerbrechen, dass ich sie niemals wieder zusammensetzen kann. Oh, wenn doch wenigstens Du und Anna das verstehen könntet, wenn ich es könnte, wenn Vati, Simon, Richard, Jenny oder irgendjemand es könnte. Ich bin nur ein Baby. Ich kann nicht auf mich selbst gestellt leben oder auch nur für mich kämpfen.

Hilfe.

Bitte, komm zu mir.

Jedes Auto, das ich höre, bringt die Hoffnung, dass Du es bist. Aber die Zeit vergeht, und ich habe solche Angst, dass Du nicht kommen wirst. Vati, Mutti, die Welt - es gibt keine Antwort auf mein Problem. Ich brauche nur mein Zuhause und Dich. Du kannst mich nicht einfach abschreiben - nicht einmal für eine Minute. Wenn Du mich nicht wolltest, warum hast Du mich dann erst in die Welt gesetzt? Ich steh auf Messers Schneide und kann es nicht mehr ändern.

Wirst Du kommen, um mir zu helfen? Ich bin wie ein neugeborenes Kind, nur mit mehr Gefühlen und Ängsten und Einsamkeit.

Hilfe Hilfe Hilfe

Bleib bei mir

hilf mir bitte hilf

bleib bleib bleib

halte mich zeig mir

Du liebst mich trotz

meiner grässlichen Persönlichkeit und

was ich zu sein scheine.

Aber ich bin lebendig

und es geht einfach

weiter und weiter.

Es hört niemals auf

Es wäre mir lieber

Du würdest mich töten

als mich verlassen.

Ich meine das wirklich.

Bleib bei mir

nimm mich zurück in mein Zuhause

ich kann es in anderer Umgebung

nicht aushalten.

Hilf bitte bitte

nimm mich. Ich bin allein,

ich bin nicht normal,

ich bin seltsam,

so dass es leicht für Dich ist,

r einen Tag oder zwei zu sagen,

dass Du es nicht versuchen willst.

Aber für mich ist es ein Leben

voller Elend

und jede Sekunde dauert ein Jahr.

Komm, komm mein Gott,

denke nicht, dass mir Anna egal ist,

weil sie mir nämlich sehr viel bedeutet

und auch, wenn sie jetzt versagt,

werde ich die Schuld auf mich nehmen

und auch diese Last tragen.

Aber ich werde ganz einfach zerstört.

Wir müssen eine Lösung finden.

Du kannst nicht einfach sagen:

mach, dass Du dorthin gehst.

Es ist hart, weil es nicht recht ist,

ich bin nicht in der Lage,

wirklich zu sagen, wie ich mich fühle,

weil es keine Möglichkeit gibt,

wie ich das tun könnte.

Es ist einfach für euch Menschen,

vernünftig zu sein und zu erklären,

dass das, was passiert,

richtig ist, weil ich so seltsam bin.

Nenne es, wie Du willst.

Aber hilf mir bitte.

Bitte, hilf mir einfach nur.

Hol mich nach Hause,

ich kann nicht hier fern von Dir bleiben.

Kapitel 7

Bei der Ankunft im Krankenhaus entschied Catherine, dass sie nicht bleiben wolle. Der Arzt, der sie einweisen musste, sprach mit ihr und versuchte nach besten Kräften, sie zu überreden, freiwillig dazubleiben. Als sie sich weigerte, sagte er ihr: "Sie können nicht nach Hause gehen, Catherine. Sie sind entmündigt worden." Als sie das hörte, versuchte sie verzweifelt, ihr Gleichgewicht zu bewahren; der Schock war enorm. Sie fragte, wer dafür verantwortlich zu machen sei. John antwortete, dass er derjenige sei, der darauf bestanden habe, sie zu entmündigen. Er erwähnte nicht, dass ich davon gewusst hatte und dass auch Dr. Foot ihre Hand im Spiel gehabt hatte. Es war beschlossen worden, dass Catherines Vertrauen zu uns beiden, sowohl zu Dr. Foot als auch zu mir, auf keinen Fall zerstört werden dürfe. All die alten Animositäten, die Catherine ihrem Vater in der Vergangenheit entgegengebracht hatte, kamen wieder hoch. Es dauerte mehrere Wochen, bevor Catherine es ertragen konnte, wieder mit ihm zu sprechen. Schließlich bat sie, mit mir in ihrem Zimmer alleingelassen zu werden. All ihre panikartigen Befürchtungen und Ängste traten wieder hervor. Sie betonte, dass sie ihre Mitarbeit verweigern werde, und bat mich, sie nicht zu verlassen. Als der Arzt zurückkehrte, weigerte sie sich, sich von ihm untersuchen zu lassen. Eine Schwester kam mit einer Spritze herein und ganz schnell, noch bevor Catherine widersprechen konnte, stach der Arzt die Spritze in ihren Arm. Innerhalb von zwei oder drei Minuten hatte sie alles um sich herum vergessen. Der Arzt deutete mir, ich solle gehen. Hinterher teilte er mir mit, dass ihre körperliche Verfassung sehr schlecht sei. Sie wurde mehrere Tage lang rund um die Uhr von einer Schwester betreut. Es dauerte zwei Wochen, bevor ich sie besuchen durfte.

Als ich Catherine wiedersah, wog sie … Kilo. Ihr Gesicht war aufgedunsen, und ihr schönes, kräftiges Haar, das schon unter den Folgen der Magersucht so sehr gelitten hatte, sah dünn und schlechter aus als jemals zuvor. Jedem im Krankenhaus schien es, als ob sie sich in ihr Schicksal ergeben habe - sie war hilfsbereit und machte Fortschritte. Es war die alte Geschichte: sie machte mit, um herauszukommen und wieder hungern zu können. Aber nun war sie für ein Jahr entmündigt worden, so dass in ihrem Kopf das Verlangen nach Freiheit dominierte; sie plante bereits, gegen ihre Entmündigung Einspruch zu erheben. Etwa zu diesem Zeitpunkt musste der Assistenzarzt dringend verreisen und ließ Catherine in der Obhut eines Kollegen. Sie baute schnell ein gutes Verhältnis zu diesem Arzt auf und hatte, und das war das wichtigste, das Gefühl, sie könne ihm trauen. In acht Wochen erreichte sie ihr Normalgewicht von … Kilo, aber ihre Qual, ihr Schmerz und innerer Kampf wurden immer schlimmer. Sie sagte mir, dass ich mich nicht davor fürchten solle, dass sie sich das Leben nehmen werde, denn - wie sie es ausdrückte -"wenn ich jetzt sterben würde, würdest du nicht mein wahres Ich begraben." Sie hasste sich selbst. Ihr neues Gewicht hatte überall angesetzt. Man erklärte mir, dass es, wenn jemand, der so ausgehungert sei wie Catherine, dann wieder zunimmt, sich auf ähnliche Weise vollzieht wie bei einem Baby - mit einem dicken Bäuchlein und einem runden Gesicht. Ihr neues Haar war auch so weich und fein wie bei einem kleinen Kind.

Während Catherine bei diesem Arzt in Behandlung war, traf er John und mich regelmäßig und half uns durch seine große Offenheit und Geduld, die Magersucht endlich zu verstehen. Er sagte: "Es ist nicht wie mit den Masern, die kommen und wieder verschwinden. Es wird zu einem Bestandteil der Persönlichkeit ‑- und das ist es, was es so gefährlich macht." Er erklärte uns weiter, dass von der Magersucht loszukommen mindestens so schwierig sei, wie von Heroin zu entziehen. Trotz ihrer 21 Jahre sei Catherine in vielen Punkten noch wie eine Dreizehnjährige, die, sollte sie ihr Normalgewicht halten können, noch eine Art Pubertät durchmachen müsse - die Pubertät, die sie wegen ihrer Krankheit niemals erfahren hatte.

Während ihres Krankenhausaufenthaltes weigerte sich Catherine, irgend jemanden außer mir - und in den späteren Wochen ihren Vater ‑- zu empfangen, letzteren vor allem, weil wir jetzt regelmäßig mit dem Arzt sprachen und Catherine an unseren Gesprächen teilnahm. Ihre Weigerung, sogar ihre Geschwister zu empfangen, beruhte einfach darauf, dass sie es nicht ertragen konnte, „so hässlich und fett“ gesehen zu werden. Hätte sie von Anfang an Besuch empfangen dürfen, wäre dieses Bedürfnis, sich vor ihrer Familie und ihren Freunden zu "verstecken", gar nicht erst entstanden. Und wenn das Zielgewicht nicht ganz so hoch angesetzt worden wäre, wäre die Qual des Zunehmens nicht so dramatisch gewesen. Obwohl mir klar ist, dass es bei chronisch Magersüchtigen wichtig ist, dass sie zunehmen, glaube ich, dass der Gewichtszunahme in der Behandlung weniger Bedeutung zugemessen werden sollte.

Zwei Wochen vor ihrer Entlassung begann Catherine, sich nach einer neuen Stelle als Kinderfrau umzusehen. Ihre Angst davor, nach Hause zu kommen und sich der Reaktion der Bekannten über ihr Aussehen stellen zu müssen, war riesig. Es schien ihr daher die ideale Lösung, weiter weg von zu Hause zu leben - und doch so nah, dass ich sie besuchen konnte. Sie fand glücklicherweise eine Familie mit zwei 4 - bzw. 7 Jahre alten Jungen, die nur 2,5 Kilometer von uns entfernt wohnte. Die Mutter wusste von Catherines Magersucht; eine ihrer Freundinnen hatte Catherine in der Schule unterrichtet. Catherine erledigte ihre Arbeit gut und mochte die Familie sehr.

Catherine musste weiterhin einmal in der Woche zu ihrem Arzt ins Krankenhaus. Er hatte ihr zugesichert, dass er, wenn sie ihr Gewicht von … Kilo drei Monate lang halten könne, ihre Entmündigung unter Umständen aufheben würde. Davon befreit zu werden und die Ärzte loszuwerden - das war ein Gedanke, der sie völlig vereinnahmte. Ich besuchte sie fast jeden Abend, und an ihren freien Tagen und Wochenenden machten wir gemeinsame Ausflüge. Zu diesen Gelegenheiten sprach sie sich bei mir aus, sprach von ihren Gefühlen und Einstellungen, insbesondere von ihren Gedanken zu Leben und Tod.

Die wenigen Stunden, die ich mit Catherine verbrachte und in denen ich gegen das anredete, was ich damals als ihre Negativität betrachtete, waren eine mehr als erschöpfende Erfahrung. Ihrem Arzt gegenüber sprach sie von ihren Zukunftsplänen, nach Hause zurückzukehren, wieder als Sekretärin zu arbeiten usw. Mir gegenüber sprach sie von ihrem Sehnen, aus dem Leben zu scheiden, ihrer Angst vor Beziehungen und vor allem von dem dunklen Wunsch in ihr, wieder mit dem Hungern anzufangen. Catherine vertraute mir hundertprozentig und fühlte sich völlig sicher, wenn sie mit mir redete. Ich dagegen war hin- und hergerissen. Ich wusste, dass ich allein nicht in der Lage war, ihre Magersucht zu bekämpfen. Ich konnte ihr gegenüber Geduld zeigen, ihr Liebe und alle Unterstützung geben, die sie brauchte, aber die Magersucht war größer als wir beide zusammen. Wenn sie überhaupt irgendeine Chance zum Weiterleben bekommen sollte, musste ich ihr Vertrauen brechen ... Ich beschloss, alles, was sie mir vertraulich gesagt hatte, ihrem Arzt anzuvertrauen.

Er war nicht überrascht, da er Catherine bereits Wochen zuvor gründlich kennengelernt und außerdem genug Magersüchtige behandelt hatte, um zu wissen, wie ihr Verstand funktionierte. Kurz nachdem ich ihm all diese düsteren Gedanken und Gefühle Catherines eröffnet hatte, fragte er mich, ob ich bereit sei, Catherine vor ihm damit zu konfrontieren. Ich war entsetzt und sagte, dass ich ihr das nicht antun und sie nicht vor ihm verraten könne. Ich hatte Angst vor ihrer Reaktion - nicht nur vor ihrem möglichen Hass, sondern vor allem vor der sehr realistischen Gefahr eines Selbstmordes. Er schlug vor, dass ich darüber nachdenken und ihn anrufen solle, wenn ich meine Entscheidung getroffen habe. Ich besprach es mit Simon, Richard und Anna; sie fürchteten genau wie ich, dass es für Catherine den Zusammenbruch bedeuten und ihre einzige starke und sichere Beziehung zerstören würde, von der sie glaubte, dass sie für sie lebensnotwendig sei. John dagegen meinte, es sei das Risiko wert; da nichts anderes ihr geholfen habe, müssten wir diese letzte Chance nutzen. Ich rief den Arzt an und sagte, dass ich es nicht tun könnte. Er erklärte mir seinen Plan, der darauf abzielte, Catherine zu zeigen, wie sehr ich die Magersucht hasste, sie aber liebte. Er wollte meine Liebe zu Catherine von ihrer Magersucht trennen. Er sagte: "Sie wird Sie vermutlich hassen, aber nicht lange. Kleine Kinder hassen ihre Eltern niemals wirklich, weil sie von ihnen zu sehr abhängig sind. Und weil Catherine von Ihnen abhängig ist, wird sie Sie nicht hassen können." Wir redeten lange - und schließlich stimmte ich zu. Er erklärte mir, dass er mich in der Sitzung darauf ansprechen werde, dass er aber, wenn ich mich nicht in der Lage sähe, Catherine zu konfrontieren, es auch nicht weiter verfolgen wolle, da er meine Gefühle zu respektieren gedenke. Mir wurde jetzt klar, dass meine Liebe zu Catherine größer war als irgendein Einbruch in unserer Beziehung; wenn sie mich hasste, wenn sie mich nie wieder sehen wollte, aber dafür ihre Magersucht in den Griff bekam, dann war diese Konfrontation es in jeder Hinsicht wert gewesen.

Einige Tage nach meinem Telefonat mit dem Arzt fuhr ich Catherine zum Krankenhaus. Vor den Sitzungen war sie jedes Mal sehr aufgewühlt, weil sie fürchtete, der Arzt könnte herausfinden, dass sie an Gewicht verloren hatte. Sie ging sehr weit, um den Gewichtsverlust vor der Schwester zu verbergen, die sie wog: sie versteckte kleine Gewichte in ihren Taschen, zog zusätzliche Kleidung an und trank einige Tassen schwarzen Kaffee, bevor ich sie abholte. Bei ihrem letzten Besuch waren diese Tricks aufgeflogen; die Folge davon war, dass der Arzt ihre Mündigerklärung um eine Woche verschoben hatte. Dadurch war sie in größere Ängste gedrängt worden als sonst. Ich verbrachte diese Fahrten zur Klinik regelmäßig mit dem Versuch, sie zu beruhigen und zur Vernunft zu bringen. An diesem besonderen Tag jedoch war ich diejenige, die Zuspruch brauchte. Innerlich war ich aufgewühlt, ängstlich und zittrig über das, was bei dem geplanten Unternehmen herauskommen würde.

Bei unserer Ankunft wurden wir gleich von dem Arzt empfangen, und die übliche Diskussion begann in einer weitgehend entspannten Atmosphäre. Nach den einleitenden Worten erklärte der Arzt, dass er glaube, Catherine werde wieder anfangen zu hungern, sobald er sie aus der Behandlung entlassen habe. Ich wusste, dass dies mein Stichwort war. Aber ich blieb stumm - ich konnte nichts sagen.

Nach mehreren solcher Stichworte fand ich schließlich den Mut und konfrontierte Catherine mit allem, was sie mir im Vertrauen erzählt hatte. Wenn Blicke töten könnten, würde ich jetzt nicht hier sitzen und diese Zeilen schreiben!

Catherine war am Boden zerstört. Obwohl sie versuchte, vor dem Arzt nach außen hin Ruhe zu bewahren, konnte ich ihre Gefühle von Verrat, ihre Wut und ihr völliges Unverständnis darüber, warum ich ihr das antat, fühlen. Sie gab zu, dass alles, was ich gesagt hatte, der Wahrheit entsprach, und diskutierte eine Weile mit dem Arzt. Schließlich fragte er sie: "Warum glaubst du, dass deine Mutter das getan hat, Catherine?" Plötzlich brachen all die schrecklichen Gefühle hervor, die sie zu unterdrücken versucht hatte, und sie rannte aus dem Zimmer. Kurz darauf lief ich zum Parkplatz zurück und hoffte und fürchtete zugleich, dass ich Catherine dort finden würde. Sie war nicht da. Der Arzt kam heraus, um in sein Auto zu steigen, und als er sah, dass Catherine nicht bei mir war, ging er zurück ins Krankenhaus und suchte sie. Für den Fall, dass sie auftauchen würde, blieb ich beim Wagen. Sie war nirgends zu finden. Er sei sich sicher, sagte er mir, dass Catherine den Weg nach Hause finden würde. Ich solle daher zu Hause auf sie warten. Ich beschloss, zunächst die Umgebung abzufahren, und hoffte, sie irgendwo zu entdecken. Ich wollte schon aufgeben, als ich aus irgendeinem Grund in die nächstliegende Geschäftsstraße einbog, die vielleicht zwanzig Minuten Fußweg vom Krankenhaus entfernt lag, und meinen Wagen in einer Seitenstraße parkte. Catherines Stimme rief: "Mutti!" Ich drehte mich um und musste eine schallende Ohrfeige und laute, wütende Beschimpfungen und Anschuldigungen über mich ergehen lassen. Bevor ich mich von dem Schock erholen konnte, war Catherine bereits wieder davongelaufen. Einige Minuten später fand ich sie zusammengekauert und schluchzend hinter einer Telefonzelle sitzen. Ich brauchte all meine Kraft, um sicher und ruhig zu wirken. Sie holte noch einmal nach mir aus. Ich ergriff ihren Arm und sagte, dass ich sie, wenn sie jetzt nicht mit mir zum Wagen käme, dort sitzen lassen würde. Wir gingen zum Auto zurück. Kaum saßen wir, griff sie mich wieder an. Ich versuchte ihr klarzumachen, dass meine Gefühle für sie dieselben seien wie immer und dass es ihre Magersucht sei, dieses Ding, das eine solche Macht auf sie ausübe, vor dem ich mich ekelte und das ich hasste.

Als wir losfuhren, begann sie darüber zu sprechen, wie sie sich fühlte. Was ich getan hatte, war einfach undenkbar. Wie konnte die Mutter, die sie so sehr liebte und der sie vertraute, sie so verraten? Plötzlich öffnete sie mitten in der Fahrt die Beifahrertür, und einen furchtbaren Moment lang glaubte ich, sie würde hinausspringen. Ich verlangsamte das Tempo, damit sie die Tür wieder schließen konnte. Den Rest der Fahrt verbrachten wir schweigend.

Wir erreichten das Haus der Familie, bei der sie arbeitete, und sie stieg aus. Als sie durch das Gartentor ging, drehte sie sich um und sagte mit harter und lauter Stimme: "Ich will dich nie wiedersehen."

Nach ein paar Stunden, die ich über schwarzem Kaffee in einem kleinen Cafe verbracht hatte, fühlte ich mich in der Lage, nach Hause zu gehen. Dort erfuhr ich, dass Catherine dauernd angerufen hatte und mich sprechen wollte. Anna bereitete gerade das Abendessen vor.

Sie sagte: "Ich wusste, dass es ein besonders schwerer Tag für dich sein würde. Da habe ich schon mal angefangen." Ich war ihr so dankbar für ihre Fürsorge.

Da ich um Catherines Geisteszustand fürchtete, fuhr ich direkt zu ihr. Sie war gerade dabei, das Abendbrot für die Kinder vorzubereiten. Die Eltern waren für den Abend ausgegangen. Ich ging in die kleine Wohnung im Erdgeschoß, die sie bewohnte. Nachdem sie die Kinder vor den Fernseher gesetzt hatte, wo sie eine ihrer Lieblingssendungen sehen und ihr Abendbrot essen konnten, kam sie zu mir. Sie schloss die Tür und sagte einen Moment lang nichts. Dann brachen alle ihre wütenden und tobenden Gefühle hervor. Sie war wie vor den Kopf geschlagen und verwirrt durch meinen Verrat. Ich hatte niemals solche Gefühlsausbrüche, solch eine wilde Wut bei Catherine erlebt.

Auf dem Höhepunkt ihrer Hysterie angelangt, holte sie hinter allen möglichen Stühlen und Schränken Tragetüten hervor; plötzlich war der ganze Boden mit Dutzenden von Kekspäckchen und Schokoladenriegeln bedeckt. Dann schien all ihr wütendes Toben zu verklingen. "Das hier, das ist es, was Magersucht bedeutet", sagte sie. Und dann erzählte sie mir eine beinahe unglaubliche Geschichte. Seit sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte sie sich aufgrund des Zwangs, ihr Gewicht zu halten, um wieder für mündig erklärt zu werden, immer wieder dabei ertappt, dass sie aus Läden Lebensmittel, insbesondere Kekse und Schokolade, klaute, die sie nicht mochte und niemals aß. Manchmal, sagte sie, sei sie sich des Diebstahls gar nicht bewusst und dementsprechend schockiert gewesen, wenn sie nach dem Verlassen des Ladens Dinge in ihrer Tasche entdeckt habe, für die sie nicht bezahlt hatte. Dann wieder überkam sie der Zwang zu stehlen, während sie im Laden war, und sie empfand eine gewisse Erleichterung, wenn sie die Dinge in ihre Tasche steckte.

Nachdem sie diese Taten eingestanden hatte, meldeten sich ihr schlechtes Gewissen und die Selbstvorwürfe; sie ekelte sich vor dem, was aus ihr geworden war. Ich saß ruhig dabei und beobachtete diesen entsetzlichen Gefühlsausbruch von Schmerz und Trauer. Dann sagte ich ruhig: "Catherine, du weißt, was du jetzt bist - ein gemeiner Dieb."

„Ja, das weiß ich", antwortete sie, "ich hasse mich selbst dafür. " Mit diesen Worten kam sie in meine Arme. "Halte mich, halte mich", sagte sie immer wieder. Ich empfand eine so starke Liebe zu ihr - und zugleich auch eine große Hoffnungslosigkeit.

Im Juli 1983 wurde ihre Entmündigung rückgängig gemacht. Ihr Arzt meinte, dass der Zweck jetzt erfüllt sei; hätte er sie nicht für mündig erklärt, hätte sie einfach nicht länger mit ihm zusammengearbeitet. Ich stimmte zu, denn ich fürchtete, dass der ständige Druck, der dadurch auf Catherine lastete, sie sehr leicht zu einem neuen Selbstmordversuch treiben konnte. Dann sagte der Arzt: "Sollte sie allerdings wieder anfangen zu hungern, gebe ich ihr noch drei bis sechs Monate."

Als sie endlich wieder "mündig" war, wirkte sie so entspannt wie seit langem nicht. Sie wollte zurück in ihren Beruf als Sekretärin und ihren Verstand wieder benutzen. Die Familie, für die sie als Kinderfrau gearbeitet hatte, war sehr verständnisvoll. Zu ihrem (und meinem) Erstaunen waren ihre Fähigkeiten als Sekretärin trotz der fehlenden Übung keineswegs geringer geworden, und sie muss sich bei den Vorstellungen sehr gut verkauft haben, da ihr drei interessante Stellen gleichzeitig angeboten wurden. Sie entschied sich für eine Stelle, bei der sie für zwei Redakteure bei der Reuter-Nachrichtenagentur in der Fleet Street arbeiten sollte.

Catherine kam drei Tage vor Antritt ihrer neuen Stelle Mitte Juli 1983 nach Hause. Sie konnte es immer noch nicht ertragen, ihrer Familie oder ihren engen Freunden zu begegnen. Simon, Jenny und Richard arbeiteten alle, so dass Catherines Ängste, ihnen gegenüberstehen zu müssen, unbegründet waren; Anna war fast den ganzen Sommer fort, erst als Au-pair-Mädchen bei unseren Freunden in Spanien, und dann blieb sie mit anderen Freunden noch in Italien.

Während Anna in Spanien war, erhielten wir die wundervolle Nachricht, dass sie ihr Abitur bestanden hatte. Das ermöglichte ihr, im darauf folgenden Herbst mit dem Medizinstudium zu beginnen. Catherine weinte vor Freude über Annas Erfolg und sagte mir, dass sie sich die Schuld gegeben hätte, wenn Anna es nicht geschafft hätte.

Catherine kämpfte, was ihre eigene Identität betraf, immer noch mit vielen schmerzhaften Fehlkonzepten. Sie glaubte, dass sie fett, hässlich und grotesk aussähe, sie hasste das Heimliche an ihrer Krankheit und die Art, auf die diese sie so grundlegend verändert hatte, um zugleich zu ihrer Lebensart und ihrer Sicherheit zu werden. Nichts davon war ihr jedoch anzumerken. Ihren neuen Kollegen kam sie, da bin ich mir sicher, wie ein ernsthaftes, aber liebenswertes junges Mädchen vor, das nicht besonders gern zum Essen oder auf einen Drink ausging.

Nachdem sie sich erst einmal in ihrem neuen Job eingearbeitet hatte, entwickelte Catherine einen Tagesablauf, von dem sie niemals abwich. Sie stand immer so gegen 7 Uhr 45 auf, ihre Kleider hatte sie sich bereits am Abend zuvor zurechtgelegt. Dann fuhr sie zum Bahnhof (nicht dem örtlichen, aus Angst, dort von jemandem gesehen zu werden, den sie kannte) und nahm den Zug nach London und die U-Bahn bis Blackfriars. Von dort ging sie zu Fuß zu ihrem Arbeitsplatz in der Fleet Street, was für Catherine ein langer Fußweg war. Sie wog … Kilo, als sie anfing - und drei Monate später, als sie nur noch … Kilo wog, wich sie immer noch nicht von diesem Ritual ab. Abends kam sie erschöpft und müde nach Hause. Sie machte sich etwas zu essen - manchmal aß sie auch ein bisschen von dem, was ich gekocht hatte - und beendete ihre sogenannten Mahlzeiten" immer mit den unvermeidbaren Melonen und Trauben. Danach nahm sie ein Bad, ging dann ins Bett und sah fern bis zum Sendeschluss. Nur selten schlief sie vor 1 Uhr früh. Ich blieb oft bei ihr sitzen, und sie erzählte mir von ihrem Tag - sie hatte Spaß an ihrer Arbeit und liebte es, mir davon zu erzählen.

Samstags stand sie um 10 Uhr auf und kaufte ihren Vorrat an Trauben und Melonen für die Woche ein. Sie hatte es gern, wenn wir danach gemeinsam irgendwohin fuhren, manchmal aufs Land, manchmal an die Küste und einmal nach London - als sie mich mit zwei Eintrittskarten für die Abendvorstellung eines Theaterstücks überraschte.

Während ihrer letzten Wochen im Arbeitsleben verbrachte sie, abgesehen vom Einkaufen des Obstes und der Säuberung ihres Zimmers, die meiste Zeit des Wochenendes damit, sich auszuruhen. Im September hatte sie das Gefühl, den übrigen Familienmitgliedern und einigen Freunden wieder gegenübertreten zu können. Ich vermute, dass sie wegen ihrer drastischen Gewichtsabnahme glaubte, dass sie nun "sie" und nicht jemand anders sahen. Den Leuten bei Reuters war Catherines extreme äußerliche Veränderung in so kurzer Zeit nicht entgangen. Catherine machte sich viele Gedanken wegen ihrer Bemerkungen und hatte vor allem Angst davor, dass sie zu der Schlussfolgerung kommen könnten, dass sie an Magersucht litt. Ihre Redakteure und die anderen Sekretärinnen zeigten, dass sie sich Sorgen um sie machten.

Der 25. Oktober war ihr letzter Arbeitstag. An jenem Morgen hatte sie sich förmlich gezwungen, das Haus zu verlassen; obwohl sie sich sehr krank fühlte, konnte sie den Weg zur Arbeit irgendwie meistern. Als sie schließlich im Büro ankam, muss jedem ihr schlechter Zustand aufgefallen sein, denn sie wurde in Begleitung eines Mitarbeiters der Firma im Wagen nach Hause geschickt. Diesmal kam sie zum Sterben heim ...

Kapitel 8

Jetzt, da ihr Zwang zu kämpfen und sich selbst voranzutreiben vergangen war, baute Catherine körperlich schnell ab. Sie bestand nach wie vor darauf, ihr Zimmer selbst zu säubern und zu saugen, obwohl sie dabei immer langsamer wurde. Sie konnte zwar noch die Treppe hinauf- und hinuntergehen, aber nur mit großen Schwierigkeiten. Die ersten sechs Wochen, die sie zu Hause war, unternahmen wir gemeinsam einige fröhliche Ausflüge. Einer davon ist mir besonders in Erinnerung geblieben- wir besuchten nämlich Schwester Marie, die inzwischen in Oxford lebte. Catherine wollte sie unbedingt sehen. Marie beschrieb diesen Besuch folgendermaßen:

Ich hatte in der Bibliothek, einem großen ruhigen Raum mit Blick auf den Park der Universität, eine Couch für sie zurechtgemacht, drei späte Rosen und etwas Lavendel in eine Vase auf einen niedrigen Tisch in der Nähe gestellt und dazu ein kleines, in Papier gewickeltes Geschenk gelegt. Ich wollte, dass diese Vorbereitungen für sich sprachen. Als der Wagen vorfuhr, beobachtete ich, wie Catherine ausstieg. Ich bemerkte die sich langsam dahinziehenden Bewegungen und die Schwerfälligkeit der Knie‑- und Hüftgelenke, während sie, auf ihre Mutter gestützt, zur Tür kam. Dann öffnete ich und wurde von dem Lächeln in ihren tiefliegenden Augen begrüßt. Maureen half ihr auf die Couch. Sie blieb dort erschöpft liegen, während ihre Mutter mir die Neuigkeiten der Familie erzählte, von denen Catherine offensichtlich wollte, dass sie sie mir sagte. Es wäre für sie zu ermüdend gewesen, wenn sie selbst geredet hätte.

Als das Erzählen beendet war, hatte keiner von uns das Bedürfnis, etwas zu sagen oder zu tun. Also saßen wir einfach still da, während das sanfte Nachmittagslicht den Raum erfüllte. Dann fragte Catherine: "Schwester, glauben Sie, dass Jesus bald für mich kommen wird?"

"Weißt du, Catherine", antwortete ich, "du hältst meine Hand. Das bedeutet: du vertraust mir. Ich glaube, Jesus möchte, dass du ihm vertraust, weil das Leben im Himmel ein Leben im Vertrauen ist. Du wirst darauf vorbereitet."

„Ja", sagte Catherine mit friedvollem Gesicht. Als Maureen erklärte, dass sie gehen müssten, brachte ich ihr eine Tasse Tee und Catherine ein halbes Glas heißes Wasser, in das sie einige Tropfen Diät-Johannisbeersaft gab. Sie trank zwei Schluck davon. Als wir zum Wagen gingen - ich hatte Catherine untergehakt -, war sie so leicht, dass ich dachte, ich trage einen Spazierstock. Ich winkte ihnen zum Abschied, drehte mich um und fühlte, wieviel Liebe sie mir entgegengebracht hatte, indem sie in ihrem Zustand den ganzen weiten Weg gekommen war.

Catherine ging innerlich leuchtend von ihr fort; der Frieden, der in ihr gewachsen war, schien sich an diesem Tag zu intensivieren.

Ein anderes Mal fuhr ich sie in die kleine Stadt an der Ostküste, in der meine Mutter lange Zeit gelebt und wo Catherine in ihrer Kindheit viele glückliche Ferien verbracht hatte. Wir besuchten die alten Jagdgründe, und es machte mich traurig, als mir klar wurde, dass Catherine sich von ihnen verabschiedete. Ich wollte sie in Liebe einhüllen, ihr so viel Liebe beweisen, dass sie uns nicht verlassen wollen würde.

Catherine hatte sich in den Kopf gesetzt, Anna in der Universität zu besuchen. Also fuhren wir an einem Nachmittag hin. Sie genoss es sehr, Annas Zimmer zu sehen, und war froh darüber, sich ihre Schwester jetzt in ihrer Umgebung vorstellen zu können. Über diesen Besuch schrieb Anna später. "Es war auch für mich wichtig, weil sie meine beiden besten Freunde dort kennenlernte. Ich hatte das Gefühl, dass sie mich, bevor sie Catherine getroffen hatten, nicht vollständig kannten. Ich habe unzählige Male versucht, Catherine ins Gespräch einzubeziehen, aber ich wusste, dass sie sich in ihrer eigenen Welt aufhielt."

An einem Sonntag, als Richard zu Hause war, nahm er Catherine im Rollstuhl auf einen Spaziergang mit. Sie war jetzt zu schwach, um mehr als ein paar Schritte ohne Hilfe zu laufen. Um sie soviel wie möglich an die frische Luft zu bringen, mieteten wir beim Roten Kreuz einen Rollstuhl. Catherine war warm angezogen und mit einer Decke zugedeckt. Sie sah so gebrechlich aus. Als sie nach Hause kamen, fragte ich, ob es schön gewesen wäre. Richard antwortete: "Ich bin auf halber Strecke etwas müde geworden; also stand Catherine auf und hat mich geschoben!" Ich erinnere mich, dass Catherine sich über diesen Witz königlich amüsierte. Es war das erste Mal seit einer Ewigkeit, dass wir sie wirklich lachen sahen - und es war das letzte Mal.

Dann folgte noch ein Ausflug zum Friseur und zum letzten Weihnachtseinkauf. Ich werde mich immer an die Sanftheit und das Einfühlungsvermögen des jungen Mannes erinnern, der Catherine die Haare schnitt. Auch wenn sie das strahlendste Mannequin gewesen wäre statt der apathischen, ausgemergelten und halb verwahrlosten Person, die sie nun einmal war -, er hätte ihr nicht mehr Aufmerksamkeit entgegenbringen können. Ich war ihm so dankbar. Sie bat mich, sie in das Kellergeschoß eines großen Kaufhauses zu fahren; dort bestand sie darauf, mir zwei Staubsauger zu kaufen, ein Turbojet-Modell und einen tragbaren. "Ich möchte dir die Dinge leichter machen", war ihre knappe Erklärung. Danach konzentrierten wir uns auf das Einkaufen von Weihnachtsgeschenken. Sie hatte viel Spaß an allem. Während ich sie durch die Einkaufsstraßen schob, hörte ich, wie sie die Weihnachtslieder mitsummte, die aus den Lautsprechern klangen.

Die Einkaufsexpedition ging allerdings nicht ohne Schrecken ab. Einmal lehnte sie sich nach vom, verlor das Gleichgewicht und fiel aus dem Rollstuhl. Etwas früher, beim Einkaufen der Staubsauger, hatte es eine Krisensituation gegeben, weil ich auf die Damentoilette im dritten Stock eilen musste - was inmitten des Weihnachtseinkaufsrummels keine leichte Aufgabe war.

In diesen Wochen wurde Catherine regelmäßig von einem jungen Pastor besucht, der neu in unsere Gemeinde gekommen war. Sie mochte Pastor Johannes auf Anhieb und betrachtete ihn als besonderen Freund. So viele liebe Menschen versuchten auf ihre Art - durch Besuche, Briefe oder Blumensendungen -, in Catherine die Lebenslust wieder zu erwecken. Aber sie wollte einfach nur sterben. Nur Gott, so glaubte sie, verstand sie wirklich, und nur er konnte sie von ihrem Leiden erlösen. "Warum hat er mich noch nicht zu sich genommen?" war ihre immerwährende Frage.

Als ich eines Nachmittags bei ihr saß, fragte sie mich plötzlich: „Was mache ich falsch?" Ich wusste, worauf sie hinaus wollte - sie wollte würdig sein, in den Himmel zu gelangen.

Ein anderes Mal fragte ich: "Was glaubst du, wie es im Himmel ist,  Catherine?"

Sie antwortete: "Ich glaube, es ist ein Ort voller Frieden, Freude und Freiheit." Sie zögerte einen Moment. Dann fügte sie hinzu: - „ und Wärme." Nach ihrem Tod dachte ich sehr oft an diese Beschreibung und fand Trost in der Art und Weise, wie sie gesagt hatte. " ... und Wärme". Die Wahl dieses Wortes weckte viele Assoziationen die Wärme der Liebe, die Wärme des Glücks und die Wärme, sich im Licht Christi aufhalten zu dürfen; ich glaube, sie meinte letzteres. Da ich mich in meinen Versuchen, Catherine vom Sterben abzuhalten, ziemlich hilflos fühlte, sagte ich etwas böse: „Was glaubst du, wie ich mich fühlen werde, wenn du stirbst?" Sie antwortete ganz sanft und lieb: "Du darfst nicht traurig sein, Mutti. Ich werde glücklich sein und das solltest du auch." Halb lachend, halb weinend entgegnete ich: "Dann sieh nur zu, dass du mir einen Platz im Himmel reservierst."

Während der letzten zwei Wochen erlitt Catherine unsägliche körperliche Schmerzen. Sie gab dies nicht ein einziges Mal zu oder beschwerte sich gar. Ich wusste es, weil es in ihrem Gesicht geschrieben stand, und während sie schlief, schrie sie ständig vor Schmerzen laut auf.

„Wie kannst du diese Schmerzen ertragen?" fragte ich sie eines Tages. Ihre Antwort erstaunte mich. "Ich nehme sie als Ausgleich für all die Schmerzen, die ich dir zugefügt habe." Was konnte ich darauf sagen? Ich ging hinunter und weinte mich aus.

Catherine war seit etwa zwei Wochen zu Hause, als ich einen Anruf von einem jungen Mädchen erhielt, die selbst an Magersucht litt und Catherine besuchen wollte. Ich kannte ihre Familie flüchtig, da wir in derselben Gegend wohnten, aber weder ich noch Catherine hatten Patricia je kennengelernt. Für Patricia war die erste Begegnung mit Catherine sehr erschreckend. "Als ich Catherine traf“, erzählte sie, "war ich von ihrem Anblick so schockiert, dass mir einfach der Verstand versagte. Ich hatte niemals zuvor etwas Ähnliches gesehen." Aber nachdem sie den anfänglichen Schock überwunden hatte, konnte sie sich zum ersten Mal mit jemandem unterhalten, der voll und ganz verstand, wovon sie sprach. Das Gefühl der Entlastung, das Patricia empfand, war enorm. In jenen letzten Wochen in Catherines Leben spann sich ein wunderbares Band der Liebe und des Verständnisses zwischen den beiden Mädchen. Im folgenden ist ein Brief abgedruckt, den Catherine geschrieben und für Patricia hinterlassen hat. Richard fand ihn wenige Stunden nach ihrem Tod.

14. Dezember 1983, 3 Uhr morgens

Liebe Patricia, ich schreibe Dir, was ich Dir schon lange schreiben wollte. jetzt scheint der richtige Augenblick dafür gekommen zu sein.

Ich will Dir sagen, dass das Leben lebenswert ist. Auch wenn ich nicht da sein werde, um Dir zu helfen, und der Kampf um die FREIHEIT von der Magersucht viel härter sein wird, darfst Du bitte niemals all das vergessen, was ich Dir gesagt habe.

Du bist 18 Jahre alt. Du bist jung, und ganz gleich was Du denkst oder fühlst, Du bist sehr attraktiv und wirst niemals fett werden. Du willst für all die wunderbaren Dinge, die Gott für Dich vorgesehen hat, leben - für Dich selbst, Deine Familie, Freunde und vor allem Kinder, kleine Menschen, die Du in diese schöne Welt setzen kannst. Ja, sie ist schön, das sage sogar ich. All diese wundervollen Plätze, der Sand, das Meer, das Land, Bäume, Blumen, Vögel - Du kannst ihnen all das geben, was Du in Deiner Umgebung vermisst hast.

Du hast den richtigen Charakter; ich ahne schon, was für eine phantastische Mutter Du sein wirst.

Hilf anderen Magersüchtigen, schreibe ein Buch. Du kannst gut zeichnen, male, was Du fühlst. Und vergiß nicht, nur Du kannst und wirst es überwinden.

Patricia, mit meiner Mutter kannst Du jederzeit reden. Es gab niemals eine Zeit, in der ich ihr nicht alles von mir erzählt hätte. Sie wird Dir helfen und wird mir darin ähnlich sein. Sie hat mich gebeten, Dir das zu sagen. Sie kann Dir helfen, es zu schaffen.

Ich muß gehen. Ich bin müde.

All meine Liebe,

Catherine.

Vom Krankenhaus aus schrieb Patricia einer Freundin:

Als sie starb, war ich wirklich traurig. Ich ging hinüber, um mit ihrer Mutter zu sprechen. Ich wusste, dass etwas nicht stimmte, weil ich den ganzen Tag versucht hatte anzurufen, und es war immer besetzt. Als ich am Haus ankam, war das Licht in ihrem Zimmer aus. Ihre Mutter öffnete die Tür, und ich wusste es sofort. Ich lag in den Armen von Catherines Mutter, und sie erklärte mir alles, vor allem, dass Catherine jetzt ihren Frieden gefunden hatte, dass sie jetzt von dem Teufel in ihr befreit war. Das gab mir Kraft, mehr denn je wollte ich diesen Teufel in mir töten, weil er mir die beste Freundin, die ich jemals finden konnte, genommen hatte.

Am 14. Dezember kam Anna von der Universität nach Hause; sie war während des ganzen Semesters regelmäßig an den Wochenenden heimgekommen und war jedes Mal verwirrter über Catherines Zustand gewesen. Catherine war inzwischen völlig bettlägerig, unkontrolliert und unfähig, irgendetwas selbst zu erledigen. Anna wurde zu meinem zweiten Paar Arme, meinem zweiten Paar Beine. Die Sanftheit, das Mitgefühl, die Geduld und die Liebe, die sie Catherine entgegenbrachte, war grenzenlos. Simon und Jenny, die inzwischen beide approbiert waren und arbeiteten, kamen vorbei, wann immer sie es nur einrichten konnten. Beide versorgten Catherine an jenem Tag, an dem ich meine Weihnachtseinkäufe erledigte. Als ich zurückkam, erzählte mir Catherine, wie gut sich die beiden um sie gekümmert hätten.

"Nur Jenny kann meinen schwarzen Johannisbeersaft so zubereiten, wie ich ihn mag!" fügte sie hinzu. Auch Richard kam, wann immer er konnte, und nichts bereitete Catherine mehr Freude, als die ganze Familie um sich zu haben. Sie erwartete Weihnachten in kindlicher Vorfreude.

Catherine hatte den ernsthaften Wunsch, die Christmette zu besuchen. In ihrem geschwächten und gebrechlichen Zustand war dies aber einfach nicht möglich. Sie sprach mit Pastor Johannes über ihren Wunsch, und er erzählte ihr die Geschichte der Santa Clara von Assisi.

Santa Clara, die im 12. Jahrhundert lebte, wurde die Begründerin des Clarissa-Ordens. An einem Weihnachtsfest lag sie schwerkrank in ihrer kleinen Zelle und hatte den unstillbaren Wunsch, an der Christmette teilzunehmen. Zu ihrer großen Freude sah sie in einer wundersamen Vision den gesamten Gottesdienst auf ihrer Zellenwand.

Catherine fand Trost an dieser kleinen Geschichte, und so sahen Catherine und ich uns, während die Familie im Gottesdienst war, die Übertragung der Christmette im Fernsehen an.

Trotz der Traurigkeit in unser aller Herzen versuchten wir, dieses Weihnachtsfest für Catherine zu einem wirklich glücklichen zu machen. Wir rückten ein Bett ins Wohnzimmer, so dass sie "mitten drin" war. Als es Zeit für das Abendessen wurde, trugen John, Simon und Richard sie mitsamt dem Bett ins Esszimmer. Dort bestand sie darauf, dass ich ihr eine Portion Truthahn mit Gemüse und Füllung gab. Sie versuchte, das Essen zu kauen, legte es dann aber in eine Schüssel. Inzwischen wurde ihr sogar vom Kauen des Essens - mit Ausnahme des Obstes - schlecht. Aber sie war fest entschlossen, an den Weihnachts-Aktivitäten teilzunehmen, soweit es ihr nur möglich war. Am Abend, als ich es ihr bequem gemacht hatte, sagte sie: "Das war ein wundervoller Tag. Sag allen danke, dass sie es mir so schön gemacht haben."

Die Woche nach Weihnachten war für uns eine Zeit stiller Verzweiflung. Catherine war so lieb, so großartig - aber zu wissen, dass sie sterben wollte, war etwas, womit wir nicht zurechtkommen konnten. Wir wussten, dass ihr Tod unvermeidbar war, und dennoch wollten wir nicht wahrhaben, dass sie es nicht wieder schaffen würde wie die letzten Male. Geistig war sie äußerst wachsam und klarsichtig; dies, denke ich, erschwerte uns das Akzeptieren. Es war ein Alptraum, aus dem ich verzweifelt aufzuwachen wünschte.

Marie reiste aus Oxford an, um Catherine zu besuchen; sie hatte vor, am selben Tag zurückzufahren, aber auf Johns Wunsch hin blieb sie über Nacht. Catherine war so glücklich. "Es ist wie ein Geschenk, Mutti. Schwester Marie und ich werden heute abend und auch noch morgen früh zusammen beten können."

Marie beschrieb, wie sie an jenem Nachmittag in Catherines Zimmer ging:

Nachdem wir eine Weile schweigend dagesessen waren, begann Catherine: "Ich wünschte, Gott würde uns ein Zeichen geben." (Sie meinte ein Zeichen dafür, ob sie leben oder sterben sollte.) Ich antwortete, dass die besten Zeichen aus unseren eigenen Herzen kämen, weil unsere Herzen so tief in uns lägen, dass sie mit Gott verbunden seien. Daher wäre es ein Zeichen, wenn sie herausfinden könnte, was ihr eigenes Herz sagt. Ganz ernsthaft antwortete Catherine: "Ich möchte Frieden in den Armen Jesu finden, auf meine Familie herabblicken und sie beschützen. Das möchte ich mit meinem ganzen Herzen." Ich antwortete: "Nun, wenn dein Herz das möchte, dann muss es richtig sein."

"Sie glauben mir, nicht wahr?"

"Ich glaube dir. Und ich glaube, dass jeder Mensch ein Geheimnis ist, und dass niemand den anderen völlig verstehen kann." Ich wurde mit einem Menschen konfrontiert, dem ich mit einem eindeutigen "ja" hätte antworten können, obwohl er in seinem Handeln meinen Ideen und Gefühlen völlig widersprach. Ich verstand es nicht. Aber auch Gott kann ich nicht verstehen.

Als Marie abfuhr, verspürte ich eine größere innere Ruhe bei Catherine. Sie war so ungeduldig in ihrem Wunsch zu sterben gewesen, aber jetzt schien sie begriffen zu haben, dass Frieden und Glück in Jesus Christus auch auf dieser Seite des Grabes möglich sind. In den wenigen Tagen, die ihr noch blieben, fragte sie nicht noch einmal: "Warum hat Gott mich nicht zu sich genommen?" oder: "Wie lange, glaubst du, wird es noch dauern, bis ich sterben werde?"

In den letzten zwei Jahren war in unserer Gemeinde an jedem Sonntag für Catherine gebetet worden. Es schien wie ein Zufall, dass ich am 1. Januar mit der Schriftlesung an der Reihe war. Aber ich glaube nicht, dass ich "zufällig" diejenige war, die zum letzten Mal um Fürbitten für Catherine bat, und es kam auch nicht von ungefähr, dass ich das Segensgebet lesen sollte, das meine Schwester Elena bei Catherines letzten Atemzügen sprach.

„Der Herr segne dich und behüte dich. Der Herr lasse leuchten sein Angesicht über dir und sei dir gnädig. Der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.“ - 4. Mose 6, 24‑-26

Im weiteren Verlauf dieses Tages begann ich mir Sorgen um Catherine zu machen. Ihre Schmerzen waren intensiver geworden. Ich rief Dr. Foot an; sie sagte mir, ich solle die Dosis der Brompton-Mixtur, die sie Catherine für die vorangegangenen beiden Tage verschrieben hatte, erhöhen. Während ich bei ihr saß, fragte ich Catherine: "Möchtest du, dass ich den Pastor rufe?" Sie nickte. Ich fühlte mich verzweifelt und verängstigt. Ich verließ meinen Platz an ihrem Bett und erledigte den Anruf bei Pfarrer Taggart, unserem Gemeindeleiter. Er kam sofort.

Die folgende Nacht verbrachte ich auf einer Campingliege neben Catherines Bett. Sie sagte: "Meine Mutti und ich schlafen im selben Zimmer. Ist das nicht schön?" Ich fühlte mich schrecklich erschöpft, aber froh, mich endlich hinlegen zu können, als ich sie fragen hörte: "Ist mein Zimmer sauber?" Richard steckte den Kopf durch die Tür, um "Gute Nacht" zu sagen und fügte hinzu: "Und dass ihr beide nicht die ganze Nacht aufbleibt und schwätzt!" Catherine schlief sechs Stunden durch - die beste Nacht, die sie seit Wochen gehabt hatte. Als sie aufwachte, sah sie mich an, und ihr kleines Gesicht strahlte. Sie sagte: "Ich bin so glücklich, Gott ist bei mir." Dies waren ihre letzten klaren Worte.

So gegen halb drei Uhr nachmittags deutete Catherine an, dass sie gebadet werden wollte. Anna half mir.

Mutti und ich trugen sie ins Badezimmer. Während ich sie hielt, wusch Mutti sie. Ich wechselte einmal meine Stellung, in der ich sie hielt, und ihr Kopf schlug auf den Wannenrand; ich machte mir Sorgen, dass sie verletzt sein könnte. Als ich sie fragte, ob alles in Ordnung sei, nickte sie nur. Ich hatte den Eindruck, dass sie gar nicht wusste, dass sie in der Badewanne saß, oder vielleicht nicht sehen konnte, was um sie herum vorging. Rückblickend denke ich, dass sie vielleicht erblindet war und sich dessen nicht bewusst war oder es sich nicht anmerken lassen wollte. Es klingelte an der Haustür, und Mutti ging hinunter, um zu öffnen. Ich puderte Catherine derweil ein - sie lag auf Handtüchern auf dem Badezimmerboden. Alles, was sie herausbrachte, als ich das Puder auf ihr verteilte, war: "Massen, Massen". Ich wollte, dass sie gut roch und sich erfrischt fühlte. Ich wollte ihr zeigen, wie wichtig sie mir war. Mutti und ich zogen ihr ein nagelneues Nachthemd an.

Als ich ihr das Haar kämmte, sagte ich ihr, wie schön sie aussähe; ich liebte sie wirklich sehr.

An diesem letzten Tag in Catherines Leben spürte ich, dass ihre Zeit auf der Erde fast zu Ende war, und dennoch konnte und wollte ich nicht zulassen, dass ich daran glaubte. Sie war so klar, so hell, ich wollte sie für mich haben. Gegen Mittag rief meine Schwester Elena an, um zu fragen, ob sie mit ihren Töchtern vorbeikommen könne, um Catherine zu besuchen. Ich sagte nein, aber meine Mutter nahm ihr den Hörer ab und erklärte, dass Catherine sie sicher gern sehen würde - und ihr konnte ich es nicht abschlagen. Als sie ankamen, zeigte sich deutlich der Gegensatz zwischen der Stille in unserem Haus und dem Regen und den stürmischen Winden draußen. Catherine schlief tief und friedlich, und das Kerzenlicht gab ihrer blassen Haut eine zusätzliche Sanftheit und ihrem Haar einen strahlenden Glanz. Später an diesem Abend wurde sie endlich von ihren Schmerzen und ihrem Leiden befreit.

Catherine starb um 18 Uhr 55 am 2. Januar 1984. Sie entschlief im Frieden mit Gott, mit sich selbst, mit uns - und mit einem Herzen voller Liebe.

Die Geschichte des Vaters

John Dunbar

Mir waren ein sicheres Heim, Ehe und Familie immer von größter Bedeutung. Es war aus meiner Sicht wichtig, dass ich mich ganz darauf konzentrierte, für mich selbst und meine Familie eine finanzielle Unabhängigkeit zu schaffen, während ich Haushalt und Familie gänzlich den begabten Händen meiner Frau überließ. Das heißt nicht, dass ich die Kinder ignorierte. Es bedeutete aber, dass ich, solange sie Babys waren, weder die Zeit noch das Interesse hatte, mich am Wickeln, Füttern, Baden und ähnlichen Aufgaben zu beteiligen. Als sie aus diesem Alter heraus waren, zeigte ich jedoch immer großes Interesse an ihrer schulischen Erziehung; ich versuchte, keine der besonderen Ereignisse an der Schule zu verpassen, zu denen auch die Eltern eingeladen wurden, und auch keine Aufführung oder Wettkampfspiel, an denen sie beteiligt waren.

Es war meine Überzeugung, dass der Ehemann alle Geldangelegenheiten kontrollieren und die Verantwortung dafür übernehmen sollte und dass die Kinder lernen mussten zu gehorchen. Disziplin bedeutete vielleicht Strenge, und meine Art und Weise wurde als "viktorianisch" bezeichnet.

Ich war überglücklich, dass unser erstes Kind ein Junge war, aber nach zwei Söhnen war es eine große Freude für uns, als unser erstes Mädchen, Catherine, geboren wurde. Meine Erinnerungen an Catherines früheste Kindheit sind geprägt von dem Eindruck eines sehr widerspenstigen und dickköpfigen kleinen Mädchens. In gewisser Weise gab es einen Willenskampf zwischen Catherine und mir. Sie spielte damit, indem sie mich abwechselnd mit Aufmerksamkeit bedachte und sie mir dann wieder entzog; sie sagte zum Beispiel: "Vati, heute aben darf du mich in Bett bring" (und verschluckte wegen eines Sprachfehlers dabei die Wortenden). Wenn aber die Schlafenszeit näherrückte, kam sie an und erklärte: "Vati, ich habe meine Meinun geändert, du darf mich heute aben nich in Bett bring."

Als Catherine älter wurde, war es ein Vergnügen, sie mit ihrer kleinen Schwester Anna spielen zu sehen und die Liebe und das Gefühl zu genießen, die die vier Kinder uns und sich untereinander gaben.

Wir besuchten als Familie oft Restaurants, und Catherine war immer extrem schwierig, was die Auswahl ihrer Lieblingsspeisen und die Art der Zubereitung betraf. Tomatensuppe, gefolgt von Rührei und Pommes frites war eine ihrer besonderen Vorlieben - aber alles ging zurück, wenn die Pommes nicht braun genug waren.

Meine frühe Kindheit verbrachte ich bei meinen Großeltern in Liverpool. Damals waren während des Krieges die Nahrungsmittel äußerst knapp, und unser Speiseplan war zusätzlich durch unseren Geldmangel eingeschränkt. Ich wurde nach der Maßregel aufgezogen, dass man sich nicht mehr auf den Teller nehmen sollte als man auch essen kann. Wenn man sich doch mehr genommen hatte, musste man alles aufessen - bis auf den letzten Krümel. Die Grundregeln lauteten "Verschwende nichts" und "Stehe niemals ganz gesättigt vom Tisch auf. Ich erzog meine Kinder nach den gleichen Regeln; ich erwartete, dass sie alles aufaßen, was auf ihrem Teller lag, und bestand auch darauf. Catherines Eigenarten, insbesondere in Restaurants, waren ein ständiges Ärgernis für mich. Einmal, als wir durch Madrid kamen, verwöhnte ich meine Familie mit einem Mittagessen bei Botins, einem der ältesten und besten Restaurants der Altstadt in der Nähe des Plaza Mayor. Die Spezialitäten, angulas bilbainas (gekochte kleine Aale, die nicht dicker als Spaghetti sind und mit Knoblauch zubereitet werden) gefolgt von Spanferkel, wurden von allen ausgewählt - außer Catherine.

Sie bestellte Spiegeleier und Pommes frites. Leider waren die Eier nicht ganz durchgebraten, so dass sie sie zweimal zurückgehen ließ. Das machte mich wütend. Wenn ich heute auf diese frühen Jahre vor dem Beginn von Catherines Magersucht zurückblicke, denke ich, dass meine Erziehung - was das Essen betrifft - und die Art, wie ich mich bei meinen Kindern durchsetzte, zu Catherines späteren Ernährungsschwierigkeiten beigetragen haben könnte. Ich wünschte nur, ich hätte mich nicht darum gekümmert, was sie aß, und hätte sie einfach in Ruhe gelassen.

Alle Kinder strebten danach, es in der Schule und beim Sport zu etwas zu bringen. Wir setzten sie nie unter Druck, wenn es um die Prüfungen ging; ich erinnerte sie immer wieder daran, dass ich die teuren Privatschulen bezahlte, damit sie bessere Menschen würden, nicht um irgendwelche Abschlüsse zu sammeln. Aus meiner Sicht war Catherine eher durchschnittlich intelligent, aber sie arbeitete so hart, dass sie am Ende des Schuljahres immer zu den Besten gehörte. Beim Schauspiel war sie sehr begabt, sie war gut im Ballett und hatte eine schöne Stimme. Wir kauften in Spanien Gitarren für die beiden Mädchen, und sie nahmen Gitarrenstunden und spielten und sangen zusammen. Catherine war auch gut beim Sport, Gymnastik, Tennis und Schwimmen - genau genommen war sie in allem, was sie anpackte, ziemlich erfolgreich. Sie war auch eine Führungspersönlichkeit - nicht nur der Wunsch ihrer Lehrer, sondern die Stimmen ihrer Mitschüler machten sie zur Schülervertreterin und Klassensprecherin.

Als Eltern gingen wir natürlich immer zu Catherines Auftritten in schulischen Theateraufführungen oder Poesiewettbewerben, wo sie immer eine der Besten war und manchmal einen der ersten Preise gewann. Einmal, als sie elf Jahre alt war, kamen wir mit einem Schiff von Spanien zurück, auf dem Catherine an einem Kinderwettbewerb teilnahm und durch das Aufsagen eines Gedichtes einen Preis gewann.

Als Vater fand ich ein besonderes Vergnügen daran, meine beiden Töchter zu zwei lebhaften und außergewöhnlich hübschen Mädchen heranwachsen zu sehen. Ich erinnere mich daran, dass ich eine Gymnastik‑- und Ballettvorführung an Catherines Schule besuchte, als sie ungefähr vierzehn Jahre alt war, und dass ich mich sehr stolz fühlte. Sie hatte ein wunderschönes Gesicht, hübsche lange Haare und eine gute, durchtrainierte, athletische Figur. Catherine hatte niemals Gewichtsprobleme gehabt. Meine Frau und ich dagegen mussten unser Leben lang mit unseren Gewichtsproblemen kämpfen, und es war ein Thema, mit dem Vati oft aufgezogen wurde, die Mutter jedoch nie.

Bis Dezember 1973 schienen wir eine ideale Familie zu sein. Wir liebten einander, es gab keine Bevorzugungen, die Jungen und die Mädchen waren sich gute Freunde. Finanziell kamen wir voran - ich machte eine hervorragende Karriere mit einem sicheren Einkommen und vielen Privilegien. Wir besaßen ein großes viktorianisches Haus, in dem wir elf Jahre lang lebten. Außerdem verfügten wir über Familienbesitz, Geldanlagen und eine Aktienmehrheit an einer kleinen Unternehmensgruppe, die ich selbst aufgebaut hatte.

Vielleicht war alles zu sicher, und die Langeweile schlich sich ein. Auf jeden Fall beschloss ich eines Tages, dass wir uns nach einem Haus mit Land, Tennisplätzen und Schwimmbad weiter außerhalb der Stadt umsehen sollten. Wir fanden ein wunderschönes Haus mit all diesen Annehmlichkeiten, nur fünfzehn Autominuten von unserem damaligen Haus entfernt. Wir machten ein Angebot, zogen es aber nach einigen Überlegungen zurück. Während ich im Ausland war, kam es zur Versteigerung, und meine Frau, die bis an unsere finanzielle Grenze mitsteigerte, wurde überboten. Die Familie hatte sich so darauf gefreut, dass es nun ein paar Tränen gab und ich mich persönlich als Versager fühlte. Es war das erste Mal, dass die Familie etwas wirklich gewollt hatte und ich nicht in der Lage war, es zu beschaffen.

Dann geschah etwas Ungewöhnliches. Der Verkauf platzte, und das Haus wurde uns noch einmal angeboten. Da wir unser eigenes Haus noch nicht verkauft hatten, bedeutete das, dass wir hohe Hypotheken aufnehmen und damit ein Risiko eingehen mussten. Aber Grundbesitz erfuhr eine enorme Wertsteigerung, und alle unsere Finanzberater sagten: "Sie haben immer große Entscheidungen für Ihr Geschäft getroffen - treffen Sie nun eine für Ihre Familie. Sie können nicht viel verlieren."

Es war mehr eine emotionale als eine logische Entscheidung, und das Ergebnis dieser Entscheidung brachte uns dem Bankrott nahe, zerriss die Familie und war - wie ich glaube - der Hauptfaktor für Catherines "Protest" in Form von Nahrungsverweigerung.

Einige Monate nachdem wir das neue Haus gekauft hatten, brach die Weltwirtschaft zusammen: die Grundstückspreise fielen und die Zinsen stiegen. Wir mussten mit hohen Schulden, die nur durch unverkäufliche Grundstücke gedeckt waren, und mit weiteren Krediten fertig werden. Mein Arbeitsplatz war gefährdet, da die europäische Kapitalanlagegesellschaft, bei der ich angestellt war, einige finanzielle Einbußen verkraften musste und beschloss, das Verbleibende zu verkaufen und die Firma aufzugeben. Die private Unternehmensgruppe, die ich aufgebaut hatte, hatte auch schwer gelitten, und die Aussichten in Verbindung mit der schlechten Weltwirtschaftslage sahen gar nicht rosig aus.

Wir hielten drei Jahre lang an unserem Landhaus fest, mussten es dann jedoch verkaufen, da ich mein Einkommen und ein Großteil meines Kapitals verloren hatte; das Haus mit Verlust zu verkaufen, war unsere einzige Überlebenschance. Eines Tages spielten Catherine und ich Tennis, während Maureen den möglichen Käufern das Grundstück zeigte. Catherine hörte auf zu spielen, kam ans Netz, stampfte mit dem Fuß auf und sagte: "Vati, warum schauen sich diese Menschen unser Haus an? Warum gehen sie denn nicht einfach weg?" Sie wusste, dass wir verkaufen mussten, aber es schien ihr erst richtig bewusst zu werden, als sie an jenem Tag plötzlich die Interessenten sah.

Von 1974 an wurde unser Leben zu einem Alptraum aus Angst, Depression und Kampf ums Überleben - wie bei einem Tier im Käfig. Ich war entschlossen, die Kinder auf ihren Schulen zu lassen, und unglücklicherweise waren sie während der ersten Krisenjahre alle schulpflichtig geworden. Außerdem bat Catherine - kurz bevor wir das Haus verkauften -, ins Internat wechseln zu dürfen; trotz der zusätzlichen finanziellen Belastung stimmte ich zu, um sie glücklich zu machen.

Meine persönliche Überlebenskrise und mein Verhalten während dieser Zeit hatten schwere Auswirkungen auf die Familie, insbesondere auf Maureen und Catherine - die Jungen lebten in ihren Internaten, und Anna war wahrscheinlich noch zu jung. Ich hatte den Eindruck, dass die Familie nicht sah, dass ich in jedem Augenblick meines Lebens noch größere finanzielle Schocks erlebte und dass ich entschieden hatte, dass wir um jeden Preis überleben mussten. Oft wurde der Druck, das Gefühl des Versagens, die Zukunftsangst und der Kampf mit den zu bezahlenden Rechnungen zuviel für mich. Als ehemaliger trinkfester Rugbyspieler beschloss ich, mich ab und zu bis zur Bewusstlosigkeit zu betrinken, oder ich versuchte mich zu erholen, indem ich mich mit meinen Depressionen ein Wochenende lang ins Bett legte. jede dieser Methoden schien meinen Kampfwillen wieder zu wecken; ohne ihn hätte ich weder persönlich noch finanziell überleben können.

Die Auswirkungen auf meine Familie waren jedoch drastisch; es gab Szenen wegen des Geldes und Szenen, weil ich mich in dieser Krise von meiner Familie alleingelassen und unverstanden fühlte. Oft geriet ich mit Catherine wegen ihrer Bestimmtheit und Dickköpfigkeit aneinander.

Wir verkauften das Haus und kauften innerhalb eines Jahres ein anderes Grundstück. Wir zogen in eine Wohnung in der Londoner Innenstadt, die zu einer meiner Firmen gehörte und noch einen Mietvertrag für zwei Jahre hatte. Fast alles andere war verloren.

Kurz bevor wir nach London zogen, bekam Catherine Verdauungsprobleme; nachdem wir umgezogen waren, hörte sie ganz mit dem Essen auf.

Ich hatte meine Schulden getilgt, aber fast mein ganzes Vermögen und meine Geldanlagen waren verloren; in wenigen Monaten würde ich auch noch mein Einkommen verlieren. Jetzt begann der Kampf um einen neuen Job.

Als Catherine zu essen aufhörte, reagierte ich instinktiv, indem ich sie zwang, so lange am Tisch sitzenzubleiben, bis sie etwas gegessen hatte. Ihre gewalttätigen Reaktionen und Beschimpfungen ihrer Eltern waren absolut unglaublich. Ich versuchte dann, ihr Belohnungen zu versprechen, um sie umzustimmen, und überlegte mir Mittel und Wege, um das zur Gewohnheit werdende Handlungsschema zu durchbrechen. Es war offensichtlich, dass nur ihre Mutter Catherine auf der Gefühlsebene erreichen konnte und dass meine Rolle daher wiederum im Organisieren und Versorgen lag. Im ersten Jahr ihrer Behandlung glaubte ich einfach nicht daran, dass dieses schöne Mädchen sieben Jahre später an Magersucht sterben würde.

Unglücklicherweise war ich während dieser sieben Jahre immer noch mit meinem Überlebenskampf und der Suche nach einer beruflichen Zukunft beschäftigt.

Mein Hauptaugenmerk galt meiner zukünftigen Beschäftigung, und ich entschied, lieber ein sehr verlockendes Angebot im Mittleren Osten anzunehmen, als die Familie aus ihrer gewohnten Umgebung herauszureißen und ein ebenso verlockendes Angebot in Australien anzunehmen. Catherine kam ins Krankenhaus, war regelmäßig in psychiatrischer Behandlung und ging sogar für ein halbes Jahr in Frankreich zur Schule, damit sie aus ihrer alten Gewohnheit herauskam. Wir brachten sie vor meiner Abreise in den Mittleren Osten nach Frankreich, und sie kam nach der Hälfte des Schuljahres nach Hause, kurz bevor ich meine Stelle antreten musste. Sie schien glücklich und gesund zu sein. Als ich sie für das verbleibende Schulhalbjahr in Frankreich zum Flughafen brachte, schien sie mir etwas unsicher zu sein. Nach wenigen Wochen in Saudi-Arabien erfuhr ich, dass Catherines Zustand wieder ernst geworden war.

Bevor ich nach Saudi-Arabien ging, hatte ich, da der Mietvertrag für die Londoner Wohnung innerhalb des folgenden Jahres auslaufen sollte, ganz nach meiner Gewohnheit die Eigenschaften und Besonderheiten aufgeschrieben, die mir bei einem neuen Haus wichtig waren. Catherine wollte unbedingt ein einfaches Haus mit Garten, was leicht zu finden gewesen wäre, aber ich bestand auf einem Landhaus mit Charakter. Nach fast einem Jahr fand meine Frau schließlich ein Haus in Wiltshire und  begann, es vom Dach bis zum Keller zu renovieren. Unglücklicherweise zwang Catherines Krankheit meine Frau, in Großbritannien zu bleiben, wenn man von drei vierwöchigen Besuchen in Saudi-Arabien absieht.

Das Haus in Wiltshire war eine Katastrophe - weit weg von Freunden und Familie und zu entlegen, als dass die Kinder regelmäßig am Wochenende hätten nach Hause kommen können. Vom ersten Augenblick an hatte ich ein schlechtes Gefühl.

Während meiner zwei Jahre Aufenthalt in Saudi-Arabien kam ich zwar regelmäßig heim, aber Catherine und ich lebten uns immer mehr auseinander. Auf der einen Seite betrachtete Catherine das Leben mit ihrer Mutter als einen Himmel an Sicherheit, in dem sie als Magersüchtige leben konnte, und auf der anderen Seite fürchtete sie meine Rückkehr in Erinnerung an die vergangenen Krisenjahre. Während ich im Ausland war, verlief ihr Leben mit ihrer Mutter vermutlich in ruhigen Bahnen. Das Geld, das allen einen guten Lebensstandard und Catherine ihre Ausbildung als Sekretärin ermöglichte, kam schließlich auch automatisch ...

Catherine beherrschte jedoch immer noch die Kunst, mit meinen Gefühlen zu spielen. Einmal, als ich kurz vor Weihnachten nach England zurückkehrte, besuchten meine Frau und ich den Psychotherapeuten im Krankenhaus, in dem Catherine lag. Alle hatten beschlossen, Catherine vor dem Gespräch nichts von meiner Anwesenheit zu sagen, aber irgendwie hatte sie es herausgefunden und wartete am Aufzug auf mich. Sie schlang ihre Arme um meinen Hals und schrie: "Vati, Vati, bring mich endlich nach Hause" - was ich auch tat, obwohl das Krankenhaus der Meinung war, dass sie bleiben sollte. Vielleicht hatte ich unrecht, aber wie hätten wir uns am Weihnachtsfest erfreuen können, wenn Catherine im Krankenhaus lag und gern bei uns gewesen wäre?

Gegen Ende meines Auslandsaufenthaltes war Catherine meinen Besuchen gegenüber feindselig eingestellt. Als ich einmal unangemeldet ankam, verweigerte sie das Essen, bis ich meine Sachen wieder packte und bei einem Freund blieb. Was hätte ich tun sollen? Sie beschützte das Leben, das sie sich gemeinsam mit ihrer Mutter aufgebaut hatte, und ich stellte eine Bedrohung dar.

Schließlich verließ ich Saudi-Arabien, das mir zum Alptraum geworden war. Nach einigen schwierigen Wochen zu Hause beschloss Maureen, dass sie weggehen musste und kam, zumindest für immer, erst sieben Monate später zurück. In dieser Zeit wurde Catherine zu einer Quelle der Kraft. Sie erledigte den gesamten Haushalt und das Kochen, ermutigte mich in meinen Depressionen und half mir, zurück zur Normalität zu finden. Mit anderen Worten: sie übernahm die Rolle der Ehefrau, und für ihre kleine Schwester Anna war sie auch gleichzeitig die Mutter.

Was ihre Magersucht betraf, gab es jedoch keine Besserung; sie fuchtelte in der Küche herum und schrie, wenn ich während ihrer Mahlzeiten hereinkam. Sie servierte mir mein Essen in einem anderen Zimmer. Ihre Energie und ihre Bestimmtheit waren unglaublich. Sie zwang mich, jeden Tag mit ihr Autofahren zu üben, bis sie schließlich ihren Führerschein bestand. Gleich nachdem sie die Prüfung gemacht hatte, suchte sie überall nach einem Gebrauchtwagen - und innerhalb einer Woche überredete sie mich, ihr einen zu kaufen.

Catherine war diejenige, die mir beim Umzug half - wir zogen in ein Haus, das von oben bis unten umgebaut, saniert und renoviert werden musste. Für einige Monate lebten wir gemeinsam im Chaos. Es gab nicht ein fertig eingerichtetes Zimmer; mehrere Handwerksbetriebe arbeiteten für uns - manchmal drei gleichzeitig. Catherine bewältigte alles und nahm zusätzlich eine Stelle als Sekretärin an.

Schließlich kam Maureen zurück, und wir fuhren mit den beiden Mädchen in Urlaub. Bei unserer Rückkehr ging Catherine zurück auf die Schule, um ihre Ausbildung als Sekretärin zu beenden, und nahm hinterher einen festen Job an.

Im September 1981 wurde Catherine wieder schwächer. Also versuchte ich, sie gemeinsam mit ihrer Mutter nach Venedig und Florenz in Urlaub zu schicken. Es wurde jedoch nicht besser, und Anfang 1982 willigte sie in einen Krankenhausaufenthalt in einer Privatklinik ein. Auch dies brachte keine Besserung, so dass wir sie sechs Monate später in noch schlechterem Zustand wieder nach Hause holten.

Maureen schaffte es, Catherine in den folgenden Monaten wieder hochzupäppeln. Sie veränderte ihr magersüchtiges Verhalten jedoch kaum. Schließlich, um meiner jüngeren Tochter die Belastung während ihrer Abiturprüfung zu ersparen, ließ ich Catherine gerichtlich in ein Krankenhaus einweisen - ein letzter, verzweifelter Versuch, ihr Leben zu retten. Sie wurde zur Gewichtszunahme gezwungen. Als sie entlassen wurde, nahm sie eine Arbeit in London an, bis sie körperlich nicht mehr in der Lage war, täglich ins Büro zu fahren.

Ihre Entschlossenheit stellte sich unter Beweis, als sie uns am letzten Tag, an dem sie noch arbeiten konnte, zum Bahnhof "trieb". Sie war wie besessen von der Idee, ihren Zug noch zu erwischen. Als er einfuhr, stand sie am Fuße einer 20stufigen Treppe. Sie konnte kaum einen Fuß vor den anderen setzen. Ich hielt den Zug auf, und sie kletterte schließlich hinein - ich wusste, dass es ihr letzter Arbeitstag sein würde. Die Firma schickte sie bald darauf nach Hause.

Es waren fast vier Jahre vergangen, seitdem ich nach Hause zurückgekehrt war. Wir alle hatten sehr gelitten und mussten nun der unausweichlichen Tatsache ins Auge sehen, dass Catherine sterben wollte. Und wenn nicht ein Wunder geschah, musste ich mich mit der Tatsache, dass sie sterben würde, abfinden.

Ich versuchte, mich so normal wie möglich zu verhalten, aber manchmal zeigte ich meine Verwirrung über Catherines Wünsche. Sie war jedoch immer verständnisvoll und voller Geduld. Eine Sache, die mich aufbrachte - und schon lange vorher aufgebracht hatte -, war ihr Rauchen. Seit meiner Kindheit hasste ich Zigarettenrauch und den Anblick von Rauchern, und es war sehr belastend für mich, dass jemand in meiner Familie rauchte. Vor allem in Catherines letzten Monaten fiel es mir schwer, damit umzugehen. Zum einen hasste ich die Angewohnheit; zum anderen konnte ich nicht nachvollziehen, warum ein Mädchen, das nicht essen wollte, rauchen konnte. Warum, warum nur konnte sie nicht essen statt zu rauchen? Jetzt weiß ich den Grund - Magersüchtige rauchen, weil ihre Gier verlangt, dass sie immer etwas im Mund haben.

Aus meiner Sicht ist niemand und kein Ereignis alleinschuldig an Catherines Krankheit. Sie war das Ergebnis ihrer eigenen körperlichen und seelischen Konstitution in Verbindung mit den Traumata und dem Stress der Familie und der Beziehung der einzelnen Mitglieder zueinander. Catherine hat jede mögliche medizinische Hilfe und alle Hilfe und Liebe, die wir in diesen Jahren der familiären Krise zusammenkratzen konnten, erhalten.

Wenn ich heute zurückblicke, denke ich an meine Strenge den Kindern gegenüber, die unsere Beziehung erschwert hat. ich denke an meine Depressionen und Wutanfälle während der familiären Probleme, die sie alle tief trafen. Ich erinnere mich an mein fehlendes Verständnis dafür, dass ein klar denkendes, intelligentes Mädchen sich selbst so etwas antun konnte; meine Wut, Intoleranz und Frustration, die ich oft an ihr ausließ in den Versuch, sie von ihrem fatalen Weg abzubringen. Obwohl es sie wütend machte, versuchte ich es mit Logik, mit Bestechung, mit Drohungen und Bitten. Ich musste es immer wieder in der Hoffnung versuchen, dass irgendeine Gefühlsveränderung bei ihr den Wunsch und den Willen zum Leben wecken könnte. Alles, was ich sagte oder tat, war das Beste, was ich in jener Zeit unter den damaligen Umständen tun konnte. Mein Verstand konnte es nicht begreifen, aber traurigerweise gibt es bei der Magersucht keine Logik. Ich werde immer das Gefühl mit mir herumtragen, versagt zu haben, und Trauer und Schmerz darüber empfinden, eine wunderbare Tochter durch eine Krankheit verloren zu haben, die niemand wirklich versteht. Ich liebte sie sehr.

Nachwort

Simon Dunbar

Als junger und gerade erst approbierter Arzt erwarte ich nicht, dass jeder mit meiner Analyse der Magersucht einverstanden ist. Dennoch glaube ich, dass das Leiden und letztendlich der Tod meiner Schwester mir einen Einblick in diese Krankheit gewährt hat, über den andere vielleicht nicht verfügen.

Meine Beziehung zu Catherine war die des älteren Bruders gegenüber der jüngeren Schwester. Dennoch hatte ich seltsamerweise manchmal das Gefühl, dass sie Jahre älter und fast wie eine Mutter zu mir war. Trotz ihrer beherrschenden Art und den Merkwürdigkeiten, die von ihrer Krankheit hervorgerufen wurden, und obwohl sie manchmal sagte, wie sehr sie uns hasste und uns nicht traute, wussten wir, dass sie uns tief drinnen liebte und brauchte. Diese liebende Seite ihres Charakters wurde besonders in den letzten Monaten ihres Lebens deutlich, als sie mit sich selbst mehr im Frieden lebte und wusste, dass sie uns dem Verständnis für ihre Situation näher gebracht hatte.

Magersucht beginnt normalerweise kurz vor, während oder nach der Pubertät und trifft häufiger Mädchen als Jungen. Es handelt sich dabei nicht, wie das Klischee es unglücklicherweise behauptet, um eine Krankheit von Schlankheitsfanatikern. Hier liegt ein tiefes Missverständnis des Syndroms vor, das nicht als direkte Folge von Diäten auftritt. Außerdem erscheint es wie eine selbstauferlegte Krankheit, die leicht rückgängig gemacht werden kann - aber nichts entspricht weniger der Wahrheit. Die Magersüchtige ist voll des auf sich selbst und auf ihre Krankheit gerichteten Hasses. Ihre Krankheit vermittelt ihr jedoch zugleich ein Gefühl des Vertrauens und des Beherrschens. Die Angst, diese zu verlieren, ist so stark, dass sie, trotz all des Leidens und der Kämpfe, in einem Kreislauf gefangen ist. Fehlerhafte Erziehung und falsche Behandlung verstärken ihre Ängste und zwingen sie, sich stärker in die Sicherheit ihrer Krankheit zurückzuziehen.

Die Magersucht gewinnt so an Boden, und die Heilungschancen werden immer geringer.

Eine genaue Definition der Magersucht ist, aufgrund der Vielfalt und Komplexität eines jeden individuellen Falles, schwer zu vermitteln. Die Ursache liegt immer tief in der Psyche des Menschen, in den Beziehungen zu seiner Familie und zu seiner Umgebung. Aber ganz allgemein könnte man Magersucht als Gewichtsverlust des Körpers, Verlust der körperlichen Kondition und das Aufhören der Menstruation umschreiben. Diese Triade ist das Ergebnis von reduzierter Nahrungsaufnahme und der Unterbrechung des Entwicklungsprozesses vom Mädchen zur Frau. Andere Elemente des Syndroms, die auftreten können, sind:

1. Das Zählen von Kalorien.

2. Aufforderung an andere, mehr zu essen.

3. Verstärktes Interesse dafür, was andere essen.

4. Verstärktes Interesse für Kochen und Essen.

5. Das Horten von Lebensmitteln.

6. Ladendiebstahl (oft Lebensmittel).

7. Tägliches Wiegen.

8. Immerwährende Besorgnis um Körpergewicht und Aussehen.

9. Das Tragen weiter Kleidung (um das Aussehen des Körpers zu verstecken).

10. Bulimie

11. Abführtablettenmissbrauch

12. Überaktivität und verstärkte geistige Wachsamkeit.

13. Tendenz, herrisch zu sein.

14. Zwanghaftes und ritualisiertes Verhalten.

15. Depressionen und Zurückgezogenheit.

16. Angst und Panikattacken.

17. Geringes Selbstwertgefühl.

18. Hass gegenüber sich selbst.

19. Selbstmordversuche.

20. Andere Auswirkungen von Unterernährung.

Magersucht bedeutet ein Anhalten der Pubertät und, in ernsteren Fällen, eine Umkehrung zurück zur Kindheit, was sich in der körperlichen und geistigen Erscheinung und Verhaltensweise des Individuums widerspiegelt. Die Magersüchtige gewinnt ihre Befriedigung und Sicherheit durch die Art und Weise, wie sie in der Lage ist, den Hunger zu unterdrücken und ihr Körpergewicht und Aussehen zu kontrollieren. Sie hört auf - beziehungsweise beginnt gar nicht erst ihre Menstruation zu bekommen und verliert - oder bekommt gar nicht erst - einen weiblichen Körper. Letztlich ist es die Magersucht, die die Kontrolle übernimmt, und es wird schwierig, ihr zu entfliehen. Essen, Figur und Gewicht werden zum Zwang. Das Leben wird auf einen festen Tagesablauf aufgebaut, und Menschen und Situationen werden so manipuliert, dass nichts an diesem Tagesplan verändert werden muss. Schließlich verzerrt sich die gesamte Selbstwahrnehmung ihres Körpers, und sie hat das Gefühl, fett und aufgedunsen zu sein.

Ironischerweise sind Magersüchtige immer hungrig und gieren nach Essen, und dieser und andere Konflikte haben ihren Preis sowohl körperlicher als auch geistiger Art. Demzufolge ergänzen ein schwaches Selbstwertgefühl, Angst, Depressionen und sogar Selbstmordversuche das Bild. Ihr Leben unterscheidet sie so sehr von unserem, dass sie sich zurückziehen und immer unfähiger werden, am normalen Leben teilzunehmen.

Meiner Meinung nach entsteht jede Magersucht aus einem großen Gefühlschaos, Trauma oder Traurigkeit heraus. Dies kann von etwas Aktuellem ausgelöst werden, ist aber häufiger das Ergebnis länger andauernder Veränderungen in Familie oder Umgebung, die für die Betroffenen große Bedeutung haben - so große Bedeutung, dass ihr Sein sich in Aufruhr und Umbruch aufzulösen droht, was wiederum die Zerstörung des Vertrauens und die Gier nach Stabilität und Sicherheit hervorruft. Pubertät ist in jedem Fall eine Zeit der Instabilität, in der geistige und körperliche Anpassungen entsprechend der Entwicklung vom Jugendlichen zum Erwachsenen gemacht werden, und anfällig für Magersucht sind diejenigen Jugendlichen, die, am leichtesten verletzt werden können. (Diese Mädchen sind oft intelligent und sehr empfindsam.)

Die richtige Behandlung der Magersucht ist entscheidend, da Fehler die Krankheit schnell in die falsche Richtung treiben können. Rückschläge stärken den Wunsch aufzugeben und intensivieren den Griff, mit dem die Krankheit zupackt. Es ist wichtig, sich die große Angst der Magersüchtigen vor der Genesung zu verdeutlichen. Gewalt auszuüben, verstärkt diese Angst und führt dazu, dass sie sich weiter in die Sicherheit zurückziehen, die ihre Krankheit bietet. Daher ist es häufig entscheidend, das Vertrauen der Kranken zu gewinnen. Die Basis der Behandlung ist ein Vertrag, und damit er erfolgreich erfüllt werden kann, müssen beide Seiten freiwillig darauf eingegangen sein. Die einzige Situation, in der Zwangseinweisung (durch teilweise Entmündigung des Patienten) angewandt werden sollte, ist beim Auftreten einer lebensbedrohlichen Situation. Die Behandlung der Magersucht selbst muss hiervon völlig unabhängig sein, damit das Vertrauen nicht zerstört wird.

Die Grundlage für eine Behandlung muss sein, das Mädchen durch die Pubertät zu führen, die sie nie durchgemacht hat, und ihr das beizubringen, was sie sonst auf natürliche Weise gelernt hätte. Nur so ist sie in der Lage, die Kontrolle und Sicherheit zu gewinnen, die sie vom Leben verlangt und die sie in ihrem Frausein und in ihrer Umwelt anstatt in ihrer Krankheit - finden sollte.

Alle Aspekte der Krankheit müssen dabei angesprochen werden. Sie muss wieder neu lernen zu essen, sich anzuziehen, Beziehungen zu entwickeln, und vieles andere mehr.

Im Idealfall sollte das von einem Team von Spezialisten in einer besonderen Umgebung erfolgen, wo die Kranken rund um die Uhr versorgt und beobachtet werden. Die Schwierigkeiten im Umgang mit Lebensmitteln, mit dem Gewicht und dem Essen sollten in das übrige Programm integriert werden, wobei von ihnen so wenig wie möglich Aufhebens gemacht werden sollte. Nichts ist schlimmer, als Magersüchtige mit einem Berg von Essen zu konfrontieren und ihnen ein Zielgewicht zu setzen, das sie für übertrieben und unerreichbar halten.

Ihnen zu helfen, Zukunftspläne zu schmieden und ihr Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen wieder aufzubauen, sind ebenso wichtig. Wegen der Besonderheit des Zustandes ist es von größter Bedeutung, den unterschwelligen Grund für die Krankheit herauszufinden und zu versuchen, mit ihm umzugehen.

Dies wird notwendigerweise bedeuten, dass die gesamte Familie zu verschiedenen Zeiten der Behandlung mit einbezogen werden muss, da es sich zum einen häufig um ein unterschwellig schwelendes familiäres Problem handelt, zum anderen aber auch, weil das Verständnis und die Unterstützung der Familie unerlässlich sein können. Es ist zwecklos, eine Magersüchtige zu behandeln und sie hinterher in ihre alte Umgebung, in der die Krankheit entstanden ist, zurückzubringen, sie somit der Gefahr also wieder auszusetzen.

In vielen Fällen löst sich die Anorexie im frühen Stadium von selbst wieder auf. Es ist jedoch wichtig, sich der Gefahren bewusst zu sein und auch der Tatsache, dass es wichtig ist, sich frühzeitig um Hilfe zu bemühen, noch bevor die Magersucht die Kontrolle übernommen hat.

Copyright: bei Francke Verlag, Marburg -

Titel: Catherine

von Maureen Dunbar

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